Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
ertragen sein, so wie geteilte Freude angeblich doppelte Freude war?
»War sie denn schon immer so?«, fragte ich.
»Nein, sie war ein wirklich glückliches und zufriedenes Kind.«
»Was ist denn mit ihr passiert?«
Augusta sah hinüber zur Steinmauer. »May hatte eine Zwillingsschwester. Unsere Schwester April. Die beiden waren eins, ein Herz und eine Seele. Im wahrsten Sinne. Ich habe noch niemals so etwas gesehen. Wenn April Zahnschmerzen hatte, schwoll Mays Zahnfleisch auch rot an. Und als unser Vater ein einziges Mal April mit seinem Gürtel geschlagen hat, bekam auch May Striemen an ihren Beinen - das schwöre ich. Es schien, als wenn die beiden überhaupt nicht zwei Personen wären, sondern eine Einheit, wie ein Körper.«
»An dem Tag, als wir gekommen sind, hat uns May erzählt, dass April gestorben ist.«
»Ja, und danach fing das mit May alles an«, sagte sie und sah mich an, als ob sie überlegte, ob sie weiter reden sollte oder nicht. »Es ist keine besonders schöne Geschichte, weißt du.«
»Meine ist auch nicht gerade schön«, sagte ich, und sie lächelte.
»Nun gut. Als April und May elf Jahre alt waren, gingen sie zusammen zum Markt, um sich Eis zu kaufen. Sie hatten im Eissalon die weißen Kinder gesehen, die ihr Eis schleckten und dabei Cartoons lasen. Der Mann, dem die Eisdiele gehörte, gab ihnen zwar ein Eis, sagte aber, sie müssten es draußen essen. April war ein starker Charakter und sehr eigensinnig, also sagte sie ihm, sie wolle aber auch die Cartoons haben. Sie stritt mit dem Mann um ihr Recht, so wie sie es mit unserem Vater immer getan hatte, und schließlich packte der Mann sie am Arm und zog sie zur Tür, und ihr Eis kleckerte auf den Boden. Sie kam nach Hause und schrie, wie ungerecht das sei. Unser Vater war der einzige farbige Zahnarzt in ganz Richmond, und er hatte in seinem Leben mehr als eine Ungerechtigkeit erdulden müssen. Und so sagte er zu April: ›Die Welt ist nun einmal ungerecht. Am besten, du merkst dir das gleich hier und jetzt und ein für alle Mal.‹«
Das hatte ich allerdings auch schon gemerkt, und zwar lange, bevor ich elf Jahre alt geworden war. Ich pustete mir eine Strähne aus dem Gesicht und legte den Kopf zurück, um am Himmel den Großen Wagen zu suchen. Junes Cello klang zu uns hinaus, sie spielte uns eine Nachtmusik.
»Ich glaube, die meisten Kinder hätten das wohl so hingenommen, aber bei April hat es irgendetwas ausgelöst«, sagte Augusta. »Es war eine ungeheure Ernüchterung für sie. Es hat sie völlig desillusioniert. Es hat ihr geradezu die Freude am Leben genommen, anders kann man es nicht sagen. Es öffnete ihr die Augen für Dinge, die sie sonst in dem frühen Alter sicher nicht wahrgenommen hätte. Sie wurde krank, wenn sie nicht zur Schule gehen wollte oder etwas einfach nicht erledigen wollte. Als sie dreizehn war, bekam sie schwere Depressionen, und gleich, was April hatte, May bekam und fühlte es natürlich auch. Und als April dann fünfzehn war, nahm sie die Waffe unseres Vaters und erschoss sich.«
Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich hielt mir die Hand vor den Mund und unterdrückte einen kleinen Schrei.
»Ich weiß«, sagte Augusta. »Es ist schrecklich, so etwas zu hören.« Sie hielt kurz inne. »Als April starb, starb auch etwas in May. Danach war sie vollkommen anders, nie mehr so wie früher. Es schien, als hätte danach die ganze Welt den Platz ihrer Zwillingsschwester eingenommen.«
Augustas Gesicht verschwand im Dunkel der Bäume. Ich rutschte in meinem Stuhl nach vorne, damit ich sie besser sehen konnte.
»Unsere Mutter sagte, May wäre wie die Marienstatue, sie trüge ihr empfindsames Herz auch außerhalb des Körpers. Mutter hat sich sehr um May gekümmert, und als sie starb, fiel die Aufgabe June und mir zu. Wir haben über Jahre versucht, May zu helfen. Wir haben Ärzte konsultiert, aber ihnen fiel nichts anderes ein, als sie in eine Anstalt zu stecken. Dann kam June und mir die Idee mit der Klagemauer.«
»Mit der was?«
»Mit der Klagemauer«, sagte sie noch einmal. »Wie in Jerusalem. Die Juden gehen dorthin, um zu trauern. Es ist für sie eine Möglichkeit, ihr Leid zu ertragen. Sie schreiben ihre Gebete auf kleine Zettel und stecken sie in die Wand.«
»Und das macht May hier auch?«
Augusta nickte. »Alle diese Papierstückchen, die da zwischen den Steinen stecken, sind Dinge, die May niedergeschrieben hat - all das Leiden, das sie mit sich herumträgt. Es scheint das Einzige zu sein,
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