Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
allein.«
Wir sahen, wie sie die Treppen der Veranda hinabstieg und auf die Bäume zuging. Es gibt im Leben Dinge, die kann man niemals vergessen, gleich, wie sehr man es auch versucht, und dieser Anblick gehört dazu: May geht mit einem kleinen Lichtschein, der vor ihr hin und her hüpft, auf den Wald zu, und dann wird sie von der Dunkelheit verschluckt.
Das Leben einer Biene ist sehr kurz. Während des Frühlings und des Sommers - der anstrengendsten Periode der Futtersuche - lebt eine Arbeitsbiene in der Regel nicht länger als vier bis fünf Wochen... Bei den vielen Flügen der Futtersuche drohen unzählige Gefahren, und so sterben viele Arbeitsbienen, noch ehe sie dieses Alter überhaupt erreicht haben.
KAPITEL 10
Ich saß mit Augusta, June und Rosaleen in der Küche, während sich um das Haus herum die Nacht ausbreitete. May war jetzt ganze fünf Minuten weg, und Augusta stand auf und fing an, unruhig hin und her zu gehen. Sie ging hinaus zur Veranda, kam zurück, sah hinaus zur Mauer.
Nach zwanzig Minuten sagte sie: »Gehen wir sie suchen.«
Sie holte eine Lampe aus dem Laster und stürmte voran zur Mauer, June, Rosaleen und ich versuchten, mit ihr Schritt zu halten. Ein Nachtvogel saß in einem der Bäume und sang sich die Seele aus dem Leib, gehetzt und fiebernd, als müsste er dort den Mond an den Himmel locken.
»M-a-a-a-y«, rief Augusta. Dann rief June nach ihr, dann Rosaleen, dann ich. Wir gingen weiter und riefen ihren Namen, aber es kam kein Laut zurück. Allein der Vogel war zu hören, der den Mond ansang.
Nachdem wir die Mauer von einem Ende zum anderen abgelaufen waren, gingen wir noch einmal an der Mauer entlang, so als ob wir es diesmal richtig machen würden: Diesmal würden wir viel langsamer gehen, genauer hinsehen, lauter rufen. Dieses Mal würde May da sein, sie würde vor ihrer Mauer knien, im Dunkeln, denn die Batterien ihrer Taschenlampe waren leer. Und wir würden denken: Du liebe Güte, wie konnten wir sie vorhin nur übersehen?
Aber das geschah nicht, und so gingen wir in den Wald hinter der Mauer, riefen ihren Namen immer lauter, bis ich hören konnte, wie sich Heiserkeit in unsere Stimmen schlich, aber keine Einzige von uns sagte: Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.
Obwohl es Nacht war, hing die schwüle Wärme noch immer in der Luft, und ich konnte die Hitze unserer Körper spüren, als wir den Wald durchkämmten und einem kleinen, schwachen Lichtkegel folgten. Schließlich sagte Augusta: »June, geh du zum Haus zurück und ruf die Polizei. Sag ihnen, wir müssen unsere Schwester suchen. Wenn du aufgelegt hast, knie vor Unserer Lieben Frau und bitte sie, über May zu wachen, und komm dann zurück. Wir gehen hinunter zum Fluss.«
June rannte los. Wir hörten, wie sie durch das Unterholz knackte, während wir das Ende des Grundstücks erreichten, wo der Fluss rauschte. Augustas Beine gingen immer schneller. Rosaleen hatte Mühe mitzuhalten und schnappte nach Luft.
Als wir an den Fluss kamen, blieben wir einen Moment lang stehen. Ich war jetzt schon so lange in Tiburon gewesen, dass ich den Mond einmal hatte ab- und wieder zunehmen sehen. Nun hing er über dem Fluss, und die Wolken glitten an ihm vorbei. Ich starrte auf einen Baum am anderen Ufer, dessen Wurzeln bloß lagen und seltsam verknotet aussahen, und spürte, wie ein trockenmetallischer Geschmack in meinem Hals aufstieg und sich über meine Zunge legte.
Ich griff nach Augustas Hand, aber sie war schon am Ufer entlang vorausgeeilt und rief nach May.
»M-a-a-a-y.«
Rosaleen und ich stolperten unbeholfen hinter ihr her. Zu meiner Überraschung fing auf einmal das Gebet, das wir jeden Abend nach dem Essen sprachen, das mit den Perlen, ganz von selbst in mir an und sagte sich von alleine in den hintersten Winkeln meines Kopfes auf. Ich konnte jedes einzelne Wort genau hören: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
Erst als Augusta sagte: »Du hast Recht, Lily, wir sollten alle gemeinsam beten«, merkte ich, dass ich die Worte laut gesprochen hatte. Augusta fiel in das Gebet mit ein, dann auch Rosaleen. Wir gingen am Fluss entlang, und die Worte folgten uns wie Perlenschnüre durch die Nacht.
Als June zurückkam, hielt sie auch eine Taschenlampe in der Hand, die sie irgendwo im Haus gefunden
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