Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
krank. Sie konnte das Leid anderer nicht von ihrem eigenen trennen. Nein, wir haben keinen Zettel gefunden. Eine Autopsie? Gut, wenn das sein muss.
Mr. Hazelwurst hatte mit allen sprechen wollen, und so waren wir nun an der Reihe. Ich erzählte ihm ganz genau, was passiert war, von dem Augenblick an, als May ans Telefon gegangen war, bis zu dem Moment, als wir sie im Fluss gefunden hatten. Dann fing er an, mir persönliche Fragen zu stellen. War ich nicht das Mädchen, das letzte Woche im Gefängnis gewesen war, um einen von diesen Negerjungs zu besuchen? Was machte ich hier eigentlich? Und wer war Rosaleen?
Ich erklärte ihm alles ganz genau, dass meine Mutter gestorben war, als ich noch klein war, dass mein Vater zu Beginn des Sommers einen Traktorunfall gehabt hatte und nun auch zu seinem Schöpfer gegangen war - ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Rosaleen, sagte ich, war mein Kindermädchen.
»Sicher bin ich jetzt ein Waisenkind«, erklärte ich ihm. »Aber wir haben Familie in Virginia. Es war der letzte Wille meines Vaters, dass ich bei Tante Bernie leben soll. Sie erwartet mich und Rosaleen. Sie wird uns das Geld für die Busfahrt schicken, aber vielleicht kommt sie auch selber hierher und holt uns ab. Sie sagt schon die ganze Zeit immer: ›Lily, ich kann es gar nicht erwarten, bis ihr endlich kommt.‹ Und ich sage ihr immer: ›Wir werden schon rechtzeitig da sein, ehe die Schule wieder anfängt.‹ Ich werde nämlich jetzt aufs College gehen, ich kann es selber kaum glauben.«
Seine Augen wurden schmal, als ob er versuchen würde, all dem hier mühsam zu folgen. Ich brach jede Regel erfolgreichen Lügens. Quatsch nicht so viel , sagte ich mir selber, aber ich konnte nicht aufhören.
»Ich bin so froh, dass ich bei ihr leben kann. Sie ist ja so nett. Sie würden gar nicht glauben, was sie mir schon alles für Sachen geschickt hat. Vor allem Modeschmuck und Teddybären. Zu jedem Geburtstag.«
Ich war nur froh, dass Augusta und June nicht dabeistanden und das hier hören konnten. Sie waren losgefahren, um dem Krankenwagen zu folgen, sie wollten sehen, dass Mays Leichnam sicher da ankam, wohin auch immer er jetzt gebracht wurde. Es war schlimm genug, dass Rosaleen mit im Zimmer war. Ich hatte Angst, sie würde uns verraten, würde etwas sagen wie: In Wirklichkeit sind wir gleich hierhin, nachdem Lily mich aus’m Gefängnis befreit hat. Aber sie saß völlig in sich zurückgezogen da, vollkommen stumm.
»Nun, wie war noch mal dein Nachname?«, sagte er.
»Williams«, sagte ich. Das hatte ich ihm jetzt doch schon zwei Mal gesagt, und ich fragte mich, was für Voraussetzungen man überhaupt erfüllen musste, um bei der Polizei von Tiburon angenommen zu werden. Es schienen die gleichen wenigen zu sein wie bei der Polizei von Sylvan.
Er schraubte sich zu seiner vollen Größe auf. »Nun, eins versteh ich nicht, wenn du bei deiner Tante in Virginia leben sollst, was machst du dann hier?«
Was er meinte, war im Klartext: Was um alles in der Welt macht ein weißes Mädchen wie du in einem Haus voller Farbiger?
Ich holte tief Luft. »Nun, wissen Sie, meine Tante Bernie musste operiert werden. So ein Frauenleiden. Also hat Rosaleen gesagt: ›Warum bleiben wir beide dann nicht bei meiner Freundin Augusta Boatwright in Tiburon, bis Tante Bernie wieder auf den Beinen ist?‹ Es macht ja wenig Sinn, zu ihr zu gehen, wenn sie noch im Krankenhaus ist.«
Er schrieb das tatsächlich auf. Wieso? Ich hätte ihn am liebsten angeschrien: Hier geht es nicht um mich oder Rosaleen oder Tante Bernie. Hier geht es um May. Sie ist tot, oder haben Sie das vielleicht schon vergessen?
Ich hätte in meinem Zimmer sein und mir die Augen ausweinen sollen, stattdessen musste ich hier rumsitzen und die dämlichste Unterhaltung meines Lebens führen.
»Kennst du denn keine Weißen in Spartanburg, bei denen du bleiben könntest?«
Klartext: Alles wäre doch besser, als hier in diesem Haus mit diesen Farbigen zu leben.
»Nein, Sir, eigentlich nicht. Ich habe da nicht viele Freunde. Ich war eigentlich nie wirklich beliebt. Ich glaube, es liegt daran, dass ich immer so gute Noten hatte. Eine Frau aus der Kirche hatte damals gesagt, ich könnte bei ihr bleiben, bis es Tante Bernie besser geht, aber die bekam Gürtelrose, und dann ging das auch nicht.«
Lieber Gott, kann mir bitte jemand den Mund zuhalten?
Er sah hinüber zu Rosaleen. »Und woher kennst du Augusta?«
Ich hielt den Atem an, mein Schaukelstuhl stand plötzlich
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