Die Bischöfin von Rom
Niemand machte ihr Vorwürfe wegen ihres unangekündigten Verschwindens; vielmehr waren sie der Meinung, daß ihre Presbyterin darin ähnlich weise gehandelt habe wie andere Seelenhirten vor ihr, die vor schwierigen Entscheidungen die Abgeschiedenheit der Natur gesucht hätten, um Zwiesprache mit Gott zu halten.
Ebenso reagierten die Angehörigen des Kirchensprengels von Sancta Praxedis, die sich bereits im März auf Anraten Silvias dazu entschlossen hatten, eine etwaige Kandidatur Branwyns zu unterstützen. Dank dieses doppelten Rückhalts ließ sich auch das Problem der um mehr als einen Monat verspäteten Bekanntgabe von Branwyns Bewerbung um das Bischofsamt lösen. Eigentlich hätte sie ja entsprechend der Regularien schon am letzten Aprilsonntag nominiert werden müssen, aber nun – bei einer kurzfristigen anberaumten Zusammenkunft von Vertretern aller nicht dem Patriarchat unterstehenden römischen Gemeinden – entschieden die Delegierten einstimmig, daß in diesem besonderen Fall eine Ausnahme gemacht werden sollte.
Dies fiel ihnen um so leichter, als sich bislang ohnehin nur ein einziger weiterer Kandidat gefunden hatte. Es handelte sich um einen älteren Priester namens Marcellus, der einer arianischen Gemeinde auf dem Pincius-Hügel vorstand und Anhänger unter verschiedenen anderen Gruppierungen dieser Glaubensrichtung besaß. Bei der genannten Versammlung lernte Branwyn ihn näher kennen und gewann von ihm den Eindruck eines aufrechten, gutmütigen Menschen, dem es genauso wie ihr um die Verteidigung der humanen Lehre Jesu und nicht um persönliche Macht ging.
Da dieser Konsens zwischen ihnen bestand, kamen die beiden Bewerber überein, während der zweieinhalb Wochen, die jetzt noch bis zur Entscheidung blieben, keinen Wahlkampf gegeneinander zu führen, sondern – ganz im christlichen Geiste – miteinander bei einer Reihe von Veranstaltungen in den verschiedenen Kirchensprengeln der Stadt aufzutreten. Sowohl Marcellus als auch Branwyn wollten dort jeweils eingehend erläutern, wie sie sich ihre bischöfliche Arbeit vorstellten und welche Schwerpunkte sie setzen würden; auf diese Weise sollten die Gläubigen die Chance bekommen, die beiden Kandidaten gründlich prüfen und beurteilen zu können.
Im Verlauf des Juni entwickelte sich zwischen Branwyn und Marcellus eine beinahe freundschaftliche Beziehung; fast Abend für Abend waren sie zusammen unterwegs, und die positiven Denkanstöße, die sie den Gemeinden gaben, wurden anschließend eifrig diskutiert. So gesehen, zeitigte die anstehende Bischofswahl bereits in ihrem Vorfeld sehr fruchtbare Auswirkungen – andererseits freilich reizte genau dieser geistige Aufbruch das Patriarchat zu neuen Attacken auf die nichtkatholischen Gläubigen. Haßerfüllt hetzte der in den Diensten des Liberius stehende Klerus gegen die vorgebliche Ketzerei der Arianer; nicht weniger schlimm waren die auf Branwyn gemünzten frauenfeindlichen Angriffe.
So erfuhr sie beispielsweise von einer Predigt in der Kirche Sancta Maria Maiora, wo der neue, vom Papst mit Gewalt eingesetzte katholische Pfarrer sich zu folgenden Ausführungen verstiegen hatte:
Die betrügerische Presbyterin von Sancta Maria sei aus der hyperboräischen Finsternis Britanniens, eines Landes voll von Satansanbetern, nach Rom gekommen und hänge heimlich noch immer dem Teufelskult an. Nur zur Tarnung habe sie den christlichen Namen Theodora – Geschenk Gottes – angenommen; in Wahrheit aber sei sie ein Auswurf des Bösen, ein belialisches Geschöpf und abgründiges Gefäß der Sünde, das schon allein aufgrund seiner weiblichen und damit unvollkommenen Natur eine fürchterliche Gefahr für den wahren Glauben darstelle. Gott habe nämlich einzig den Mann als vollkommenes Wesen geschaffen, während das Weib lediglich aus dessen Rippe erzeugt worden sei und deshalb stets in Gefahr stehe, in den Pfuhl der Verderbnis abzustürzen und andere dorthin mitzureißen. Als Exempel dafür brauche man sich nur die biblische Geschichte von Adam und Eva vor Augen zu führen; mit Hilfe ihrer tückischen Schlangenkünste habe Eva den ihr verfallenen Adam zum Frevel gegen Gott verführt, so daß das ganze Menschengeschlecht aus der Herrlichkeit des Paradieses verstoßen worden sei und seither unter Schweiß und Tränen im irdischen Jammertal vegetieren müsse. Nichts als Unglück sei infolgedessen zu erwarten, wenn jene falsche Priesterin aus Trans Tiberim jetzt noch zusätzliche Macht gewinne; das Übel
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