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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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sorgfältig und wollte es eben in ihrer Tragetasche verwahren – als sie plötzlich das Empfinden hatte, nicht länger allein zu sein.
    Hastig sprang sie auf, spähte in die Runde, aber die Schlucht lag völlig verlassen da. Schon glaubte sie, sie hätte sich getäuscht. Doch im nächsten Moment trug der Wind Töne heran, von denen sie nicht im Traum gedacht hätte, sie hier in der Einsamkeit zu hören: die Melodie eines Liedes.
    Branwyn stopfte die Wurzeln in ihre Basttasche und rannte los. Je näher sie den hohen Felsen am nördlichen Ende des Talbodens kam, um so deutlicher vernahm sie die Worte einer heiteren Ballade, die das Wiedererwachen des Lebens nach dem harten Winterfrost pries – dann bog der Sänger um eine der Klippen, gewahrte die junge Frau, verstummte verblüfft, faßte sich jedoch rasch wieder und rief ihr entgegen: »Bei Taranis, Lug und Cernunnos! Narren mich denn die Berggeister, oder bist du tatsächlich ein Wesen aus Fleisch und Blut?«
    Gleich darauf war Branwyn bei ihm und sprudelte heraus: »Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich zu sehen! Seit so langer Zeit habe ich mit keinem Menschen mehr gesprochen, und jetzt auf einmal …«
    Sie brach ab und wich einen Schritt zurück. Unvermittelt war ihr bewußt geworden, daß sie einem völlig Unbekannten gegenüberstand; deshalb musterte sie ihn jetzt genauer. Er zählte ungefähr dreißig Jahre und war mehr als einen Kopf größer als sie. Sein gutgeschnittenes Gesicht mit den blaßblauen Augen und dem buschigen Schnurrbart wirkte intelligent. Das dichte, brandrote Haar war am Hinterkopf zu einem Zopf gebunden und entsprach in der Farbe dem Plaid, das den Mann vor Kälte und Nässe schützte; auch in den Karomustern herrschte das Rot vor. Über der linken Schulter des Fremden hing ein schweres, mit einer Kordel zusammengeschnürtes Bündel, aus dem das obere Ende eines Saiteninstruments sowie der Griff eines Schwerts lugten.
    Branwyns Blick blieb an den beiden Gegenständen hängen; der Unbekannte wiederum bewies Gespür für das, was in ihr vorging. Denn er zwinkerte ihr zu und versicherte: »Nur ruhig, ich bin kein Schlagetot! Aber wenn man allein durch die Wildnis wandert, kann es nicht schaden, eine Klinge bei sich zu haben. Auch einer wie ich muß schließlich im Notfall sein Leben verteidigen können.«
    »Einer wie du, der nicht nur eine Kampfwaffe, sondern auch eine Handharfe bei sich trägt«, kam es von der jungen Frau. »Könnte es sein, daß du ein Barde bist und das Lied, welches du sangst, selbst gedichtet hast?«
    »Es kam mir in den Sinn, während ich den Paßweg heraufwanderte«, bestätigte der Fremde lächelnd. »Und damit du weißt, wer die Vögel und womöglich auch dich damit erschreckte, will ich dir meinen Namen verraten. Man nennt mich Eolo Goch.«
    »Eolo der Rote – das paßt zu dir!« versetzte Branwyn. Ihre Unsicherheit war verflogen; sie sagte ihm, wie sie hieß, und setzte hinzu: »Dein Gesang hat mir übrigens sehr gut gefallen. Nicht bloß, weil ich mich so darüber freute, nach all den einsamen Monaten wieder eine menschliche Stimme zu hören …«
    »Bedeutet das, du hast ganz allein hier oben in der Bergwildnis überwintert?« fragte Eolo ungläubig.
    Als die junge Frau nickte, forderte er sie auf: »Bitte erzähle mir alles!«
    Nach kurzem Überlegen setzte sich Branwyn auf einen moosbewachsenen Stein; der Barde legte seinen Packen ab und lagerte sich neben ihr im vorjährigen Gras, dann lauschte er mit wachsender Betroffenheit ihrer Geschichte. Es schmerzte die junge Frau, über ihre furchtbaren Erlebnisse zu sprechen, andererseits tat es ihr gut; zuletzt kniete Eolo sich neben sie, nahm sie behutsam in die Arme und wartete ab, bis sie tief durchatmete.
    »Du bist sehr stark, sonst hättest du all das nicht durchstehen können«, sagte der Barde, während er sich wieder von ihr löste. »Die meisten Menschen hätten es nicht geschafft.«
    »Ceridwen beschützte mich«, erwiderte Branwyn. Versonnen blickte sie nach Südwesten, wo die Sonne nur noch eine Handbreit über dem Grat des Passes stand, dann fügte sie hinzu: »Doch jetzt komm mit zur Höhle. Es wird schon kühl, und du bist bestimmt hungrig.«
    »Und ob ich das bin!« bestätigte Eolo und schulterte sein Bündel. Auf dem Weg zur Grotte teilte er seiner Begleiterin mit, daß er in den Süden Britanniens unterwegs sei. Aufgebrochen sei er vor dreizehn Tagen von der großen Insel Môn Mam Cymru, die jenseits einer Meerenge vor der

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