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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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Insel der Druidinnen
    Frühsommer bis Herbst 355

 
Der Apfelhain
    Der Twr – die höchste Erhebung der Ynys Avallach, auf deren Kuppe der Menhir aufragte – zog Branwyn mit unwiderstehlicher Macht an. Gleich nach Sonnenaufgang war sie aufgebrochen: von der Herberge am Fuß des westlichsten der drei Hügel, wo sie und Eolo am vergangenen Abend nach der Überfahrt im Curragh eines Fischers Unterkunft gefunden hatten. Jetzt war sie dem Twr bereits nahe; der Pfad, dem sie durch ein kleines, von Buchen, Birken und vereinzelten Eichen bewachsenes Tal folgte, kletterte allmählich höher; schließlich gaben die Laubbäume die Aussicht auf die unbewaldete Hügelflanke frei.
    Was die junge Frau schon aus der Ferne zu erkennen geglaubt hatte, wurde nun zur Gewißheit: Über mehrere schräg ansteigende Terrassen führte ein Prozessionsweg zum Gipfel des Twr empor; wie eine Schlange, die ihren Leib um die Abhänge geschlungen hatte, schien er sich höher und höher zu winden.
    »Das Zeichen des Erddrachen!« flüsterte Branwyn. Regungslos stand sie da und nahm den Anblick in sich auf; nach einer Weile spürte sie, wie ihr Inneres mit dem Wesen des Schlangenpfades eins wurde. Unendlich kraftvolle Ausgewogenheit ging von ihm aus und ließ tiefe Ruhe in sie strömen. Sie hatte das Empfinden, als begännen seine Schwingungen ihren Geist zu durchfluten; wiederum wenig später wurde ihr bewußt, daß der Drachenweg zusätzlich in vollkommenem Einklang mit der Form des Twr insgesamt harmonierte. Kaum hatte sie dies begriffen, fühlte sie auch die Kraft, welche entlang der gleich einer weiblichen Brust geformten Hügelkontur pulste und sich mit jener anderen verband, die in ovalen Spiralen aus dem Schoß der Erde aufstieg. Beide durchdrangen einander, überhöhten sich gegenseitig, verstärkten sich im Zusammenklang immer mehr und wurden zu lautlosem Hallen – zur Stimme der Göttin:
    Komm! Denn hierher habe ich dich gerufen!
    Eben noch hatte Branwyn unter den Bäumen am Ausgang des kleinen Tales gestanden; jetzt, scheinbar innerhalb eines einzigen Lidschlags, befand sie sich auf dem Prozessionsweg. Der Aufstieg fiel ihr so leicht, als würde sie tanzen; weich federten die rötlichen Kiesel unter ihren Sohlen; je höher sie kam, desto schwereloser meinte sie zu schweben. Wieder und wieder umrundete sie den Twr; als sie den obersten Abschnitt des Spiralpfades erreichte, griff ihr brausender und dennoch lauer Wind unter die Arme und trug sie dem Hohen Stein entgegen, der vor Urzeiten hier aufgerichtet worden war.
    Der Sturmwind erstarb, als die junge Frau nur noch wenige Schritte von dem Menhir entfernt war: dem größten, den sie je gesehen hatte. Dreifach mannshoch wuchs er aus dem hier felsigen Boden; hart neben seinem Sockel öffnete sich eine gezackte, an einer Stelle mehrere Ellen breite Spalte. Etwas warnte Branwyn vor diesem Riß; sie war nicht in sein Geheimnis eingeweiht, deshalb drohte dort Gefahr. Der Menhir jedoch nahm sie an; seine Ausstrahlung teilte sich ihr wie eine behütende Berührung mit und brachte sie dazu, ihn in einigem Abstand zu umschreiten.
    Weil seine Wurzeln unendlich tief in die Vergangenheit reichten, tat sie es gegen den Sonnenlauf und näherte sich auf diese Weise seinem Ursprung. Dann, im selben Moment, da sie die dritte Umkreisung vollendete, gewahrte sie eine Bewegung auf dem Drachenpfad. Es war, als wüchse eine menschliche Gestalt aus dem Erdreich des Twr; gleich darauf – die Zeit schien einen winzigen Sprung gemacht zu haben – blickte sie in das Antlitz einer anderen Frau.
    Das Alter der Unbekannten ließ sich schwer schätzen. Ihr ebenmäßig geformtes Gesicht hätte das einer Dreißigjährigen sein können, aber aus den Augen, deren Farbe zwischen Grün und Blau changierte, leuchtete abgeklärte Weisheit, wie Arawn und Penarddun sie besessen hatten. Das lange, braune Haar, das offen auf ihre Schultern fiel, war noch füllig, doch da und dort bereits von grauen Strähnen durchzogen. Die Fremde trug ein helles Leinenkleid, dessen Säume mit roten und schwarzen Borten abgesetzt waren; das und der goldene, gleich einer Schlange geformte Tore, der um ihren Hals lag, ließen Branwyn ihre hohe Stellung erkennen.
    »Du bist Druidin und Priesterin dieses Heiligtums!« stellte sie leise und ehrfürchtig fest.
    Die Ältere nickte, dann antwortete sie: »Und dir sehe ich an, daß auch du der Großen Göttin dienst.«
    Ihre Stimme klang angenehm und warm, nun trat sie einen Schritt näher und

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