Die Bischöfin von Rom
sie das Eiland, besuchten die verschiedenen Ansiedlungen und die heiligen Stätten, die Branwyn bereits kannte; dann wieder unternahmen sie lange Spaziergänge entlang des Seeufers, wo es eine Vielzahl malerischer Plätze gab. Zwischendurch machte Dyara sich von ihren Pflichten frei, um sie zu begleiten und ihnen jene Orte zu zeigen, von denen sie damals auf dem Rückweg vom Haus Sarays und Danyells zum Apfelhain gesprochen hatte.
Zu dritt erstiegen sie den Hügel über dem Hafen, auf dessen Plateau sich die den kosmischen Göttern Cernunnos, Taranis, Lug und Arianrhod geweihte Sternwarte befand: eine auf den ersten Blick verwirrende Anordnung kleinerer und größerer ringförmiger oder in Reihen stehender Steinsetzungen, mit deren Hilfe der Lauf verschiedener Gestirne sehr genau beobachtet werden konnte, wie die junge Druidin erklärte. Zudem war es mit Hilfe bestimmter Menhire und der durch sie markierten Sichtlinien möglich, den Zeitpunkt von Sommer- und Wintersonnenwenden, beziehungsweise der Frühjahrs- und Herbsttagundnachtgleichen vorauszuberechnen sowie Mond- oder Sonnenfinsternisse vorherzusagen. Seit Jahrhunderten, so Dyara, gebe man die Erkenntnisse, die in diesem Observatorium gewonnen würden, an die südbritannischen Stämme der Beiger, Atrebaten, Durotrigen und Regenenser weiter. Dies geschehe einerseits, damit die Jahreskreisfeste einheitlich durchgeführt werden könnten; andererseits aber auch, um den Ängsten der einfachen Bevölkerung bei plötzlichen Verdunkelungen des Mondes oder der Sonne vorzubeugen.
Ähnlich staunenswert wie die Sternwarte, wenn auch auf andere Art, fanden Branwyn und Eolo die Heilstätte, welche die Bewohnerinnen des Apfelgartens auf der Ynys Avallach betrieben. Die Einrichtung – mehrere große, innen durch Flechtwände unterteilte Rundhäuser in einem geschützten Tal südöstlich des Hafens – stand allen Menschen der Insel sowie ihres Umlandes offen. Jeder Kranke, gleichgültig ob wohlhabend oder arm, wurde dort unentgeltlich behandelt und kostenlos verpflegt. Die Räume, in denen die Leidenden sich aufhielten, waren geschmackvoll eingerichtet und sehr sauber gehalten; in keinem lagen mehr als drei Kranke. Unter dem Dach eines kleineren Gebäudes etwas abseits wurden, falls nötig, Operationen durchgeführt. Dort stießen Dyara und ihre Begleiter auf Alba, und die betagte Druidin, die gerade damit beschäftigt war, einen Satz chirurgischer Instrumente auszukochen, sprach bereitwillig über ihre Arbeit.
»Erst gestern hatten wir hier einen offenen Beinbruch zu versorgen«, berichtete sie. »Wir betäubten den Verunglückten mit einem Sud aus gewissen Pflanzen, reinigten dann die Wunde und richteten den Knochen wieder ein. Der Eingriff war nicht einfach, aber ich würde ihn auch nicht als sonderlich schwer bezeichnen – so wie etwa jenen anderen, der vorletzten Monat nötig war. Damals brachte man das zweijährige Kind einer durotrigischen Familie zu uns, das eine römische Münze verschluckt hatte und infolgedessen an Darmverschluß litt, und wir mußten, um sein Leben zu retten, sofort zum Messer greifen. Wir öffneten die Bauchdecke, fanden das verschlossene Darmstück glücklicherweise unmittelbar darunter, trennten es auf, entfernten die Sesterze und setzten eine Naht. Damit freilich war die Gefahr noch nicht gebannt, denn nun konnte es sehr leicht zu einer Wundvergiftung kommen. Doch da wir den Einschnitt am Bauch des in Tiefschlaf versetzten Mädchens einige Tage offenhielten, die Wunde regelmäßig reinigten und dem Kind außerdem Brotschimmel eingaben, welcher die Widerstandskräfte des Körpers auf ungeahnte Weise stärkt, genas das Mädchen und konnte vergangene Woche entlassen werden.«
Branwyn griff nach der Hand Albas und drückte sie wortlos. Die grauhaarige Ärztin dankte ihr mit einem Lächeln; gleichzeitig kam es von Dyara: »Jetzt mußt du aber von der schwierigsten Kunst erzählen, die in diesem Haus ausgeübt wird.«
Alba nickte und forderte ihre Gäste auf, mit in einen Nebenraum zu kommen. Dort öffnete sie eine kleine Truhe aus dunklem Holz und entnahm ihr einen runden Gegenstand, der in ein Tuch eingehüllt war. Als sie es aufschlug, wurde ein vom Alter elfenbeinfarben getönter menschlicher Schädel sichtbar, den die Ärztin nun langsam ins Licht drehte, so daß ihre Besucher das auffällige Mal seitlich am Hinterkopf erkennen konnten. Es handelte sich um eine ringförmige Verknöcherung von ungefähr einer halben Daumenlänge
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