Die Bischöfin von Rom
Moment – und weder sie noch er hätten sagen können, wie es geschehen war – lag die junge Frau in seinen Armen. Sehnsüchtige Schauer durchrieselten sie, während er ihre Schultern und gleich darauf ihr Rückgrat streichelte; süße Schauer, in die sich jedoch nach wie vor Wehmut mischte. Sie wollte sich diesem Mann, der so anders war als die meisten, hingeben, ebenso aber wollte sie vor ihm fliehen. Einige Atemzüge blieb alles unentschieden – dann plötzlich glaubte sie einen lautlosen Ruf von der Ynys Avallach her zu vernehmen.
Sanft entzog sie sich Eolos Umarmung und richtete den Blick hinaus auf den See; mit dem nächsten Lidschlag kam der überraschte Ausruf des Barden: »Das Eiland! Es verwandelt sich tatsächlich …«
Gebannt verfolgten sie das Wunder, das sich auf der Schwelle zwischen Tag und Nacht vollzog. Eben noch hatte die Insel in ihrer vertrauten Gestalt dort draußen gelegen; deutlich waren ihre Strandlinie, die gemächlich ansteigenden Flanken und darüber die drei Hügel zu erkennen gewesen. Nun aber umhüllte eine wallende Nebelbank, deren Oberfläche den letzten Lichtschein des Tages widerspiegelte, die Ynys Avallach; hüllte sie ein in dunkel leuchtende Schleier – und schien sie sachte emporzuheben, bis sie, von allem Irdischen losgelöst, schwerelos über den Wassern schwebte.
Erneut wurden Branwyns Augen feucht; sie sah die andersweltliche Erscheinung nur noch verschwommen. Dann, ganz unvermittelt, veränderte sich das Eiland abermals. Seine Silhouette streckte sich und nahm die Form eines Walbuckels an; darunter fluteten jetzt die graugrünen Wogen eines Meeres, das der jungen Frau von Kindheit an vertraut gewesen war: von weißer Gischt gekrönte Wellen, die sich nun tief unter der Insel wiegten und erst weit in der Ferne mit der Kimmung verschmolzen.
»Die Ynys Vytrin!« stieß sie hervor. »Die Gläserne Insel, die ich niemals wiederzusehen glaubte …«
Ihre Worte gingen in einem wilden Schluchzen unter; irgendwann, als sie wieder klar zu denken vermochte, vernahm sie die Stimme Eolos und wurde sich bewußt, daß sie sich neuerlich an seine Brust schmiegte. »Beruhige dich!« hörte sie ihn raunen. »Ich bin doch bei dir!«
Sie spürte seine Hand in ihrem Haar, hob den Kopf und wurde der samtigen Dunkelheit gewahr, die mittlerweile hereingebrochen war. Das Eiland war nur noch als tintiger Schatten vor dem Nachthimmel zu erkennen, und am Firmament funkelten bereits die ersten Sterne.
»Es ist gut, dich bei mir zu haben«, flüsterte sie. »Ich glaube, vorhin hätte ich es nicht ertragen können, allein zu sein …«
»Was geschah mit dir?« fragte er. »Hattest du eine Vision?«
Branwyn nickte. »An die Stelle der Ynys Avallach trat die Insel, auf der ich aufwuchs und bis zum vergangenen Sommer so glücklich war.«
»Und warum erschreckte dich das so?« erkundigte er sich erstaunt.
»Ich weiß nicht genau, was mich die Fassung verlieren ließ«, antwortete die junge Frau. »Sicher, da waren plötzlich wieder die Erinnerungen an Dafydd und die anderen, die der Mordlust der Piraten zum Opfer fielen … Doch andererseits fühlte ich trotz dieses Grauens, das mich für einen kurzen Moment bedrängte, auch grenzenlose Freude: ein Glücksgefühl, als sei ich zur Ynys Vytrin heimgekehrt … Ich kann es nicht erklären, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, das Eiland von Avalon wolle mir die verlorene Heimat wiederschenken … Und die Schauung, die ich erlebte, erschien mir wie ein Zeichen der Göttin …«
Mit einem schweren Atemzug löste der Barde sich von ihr, wandte sich ab und sagte gepreßt: »Wenn Ceridwen zu dir sprach, dann …«
Er verstummte; Branwyn bemerkte, wie er mit sich rang. Jetzt erhob er sich, lief einige Schritte in die Dunkelheit hinaus, kam zurück und kniete bei ihr nieder. »Wenn die Göttin zu dir sprach«, wiederholte er tonlos, »dann bedeutet das, du wirst auf der Ynys Avallach bleiben, nicht wahr?«
»Ich kann nicht anders«, kam es kaum hörbar von der jungen Frau. Lauter und nunmehr eindringlich fügte sie hinzu: »Aber du darfst nicht glauben, meine Entscheidung sei gegen dich gerichtet! Nie begegnete ich einem Mann, der mir solch uneigennützige Freundschaft entgegenbrachte wie du. Deswegen will ich dich um gar keinen Preis verletzen …«
»Das weiß ich«, entgegnete er rauh – dann brach es aus ihm heraus: »Und du weißt, daß ich dich liebe! Schon gleich nachdem wir uns im Bergland des Eryri Gwyn näher kennengelernt
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