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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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das, was du verloren hast, ersetzen.«
    Damit mußte Branwyn sich zufriedengeben; mit dem nächsten Satz wechselte Bendigeida das Thema: »Ohnehin wollte ich über näherliegende Dinge mit dir sprechen. Könntest du dir vorstellen, ähnlich wie Dyara die eine oder andere Unterrichtsstunde in unserer Schule zu übernehmen?«
    Die Augen der jungen Frau leuchteten auf. »Für heute nachmittag hat Dyara mich sowieso in ihre Klasse eingeladen, wie du weißt, und es würde mich sehr reizen, bald für eine eigene Schülergruppe da sein zu dürfen.«
    »Dann ist es abgemacht«, erwiderte die Pendruid. »Doch das bedeutet nicht, daß du dich auf den Schulunterricht beschränken mußt. Du kannst dich, wenn du möchtest, auch in der Heilstätte nützlich machen oder in Gesellschaft einer unserer sternkundigen Schwestern gelegentlich eine Nacht mit der Himmelsbeobachtung verbringen. Gib einfach deinen Neigungen nach, so wirst du deine Aufgabe in Avalon am besten erkennen.«
    Gerne erklärte Branwyn sich bereit, den guten Rat Bendigeidas zu befolgen. Anschließend plauderten die beiden Frauen über verschiedene andere Dinge, bis die Ältere sich verabschiedete, weil ihre Pflichten sie zurück in den Apfelgarten riefen. Branwyn blieb noch auf der Erdbank sitzen und schaute neuerlich versonnen über den See zum Festland; abermals waren ihre Gedanken bei Eolo Goch, der nun irgendwo dort draußen nach Westen wanderte.
    Die Sonne stand bereits hoch, ehe sie sich aus ihrer Versunkenheit löste, um ebenfalls ins Tal zu steigen. Sie umrundete den Menhir und wich dabei der Felsspalte aus, die sich hart neben seinem Sockel öffnete. Beinahe hatte sie den schmalen, gezackten Riß, der an einer Stelle mehrere Ellen breit aufklaffte, schon hinter sich, als ihr einfiel, was Dyara ihr bei ihrem ersten gemeinsamen Besuch auf dem Twr über das Geheimnis der Kluft erzählt hatte – und neuerlich meinte sie, die Worte der Freundin zu hören: »Mehr darüber wirst du an Samhain erfahren … Dann öffnen sich die Pforten zur Anderswelt …«
    Samhain, dachte sie. Die Nacht, in der die Grenzen zwischen Annwn und dem Diesseits durchlässig werden, und diejenigen, welche den gefährlichen Pfad zu beschreiten wissen, den Verstorbenen begegnen …
    Unmittelbar nachdem ihr dies durch den Kopf gegangen war, schien ihr aus der Tiefe des Twr etwas entgegenzuschlagen, das mit ihrer gestrigen Vision zu tun hatte. Etwas gleichermaßen Leuchtendes und Dunkles: wie Bahnen von Sonnenlicht und schräg einstreichendem Regen, die in raschem Wechsel über eine schweigend daliegende Landschaft glitten. Wärme und Frösteln berührten ihre Seele; ein paar hastige Herzschläge später verwich die seltsame Empfindung und machte einer Art Betäubung Platz. Erst als die junge Frau taumelnd den Rand der Hügelkuppe erreichte und ein heftiger Windstoß, der jäh über die Flanke des Twr fauchte, ihr langes, rotblondes Haar emporfliegen ließ, kam sie wieder zu sich.
    Sowohl erschrocken als auch beglückt, wurde sie sich bewußt, daß ein Anhauch aus Annwn sie getroffen hatte. Die Bedeutung der andersweltlichen Botschaft allerdings vermochte sie nicht zu entschlüsseln, sie war sich lediglich sicher: Die Göttin hatte ihr etwas, das vorerst noch verborgen bleiben sollte, ankündigen wollen.
    ***
    Im Verlauf der folgenden Wochen geschah nichts Ungewöhnliches; vielmehr fand Branwyn zunehmend inneren Frieden dank ihrer Arbeit in der Schule. Zunächst zusammen mit Dyara, dann in eigener Verantwortung unterrichtete sie eine Gruppe der jüngeren Kinder. Da sie das Lernen häufig durch lustige Spiele auflockerte, zählte sie bald zu den beliebtesten Lehrerinnen und wurde, sobald sie ihre Klasse betrat, jubelnd begrüßt. Aber auch in der Heilstätte half sie zuzeiten aus; sie pflegte Kranke, hörte sich deren Sorgen an und bemühte sich, ihnen Trost und Hoffnung zu schenken. Gelegentlich lud Alba sie in das Gebäude ein, wo die Operationen durchgeführt wurden, und während sie den unterschiedlichen Eingriffen beiwohnte, konnte Branwyn ihr Grundwissen über den menschlichen Körper und seine Gebrechen, das sie sich bereits auf der Ynys Vytrin erworben hatte, auf ungeahnte Weise vertiefen.
    In manchen der klaren Sommernächte schließlich begleitete sie eine der Druidinnen, die sich der Himmelskunde verschrieben hatten, zur Sternwarte. Die Beobachtungen, die sie dort unter Anleitung der erfahrenen Frauen anstellte, vermittelten ihr nicht nur astronomische Kenntnisse, sondern

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