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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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über das Eiland. Eingehüllt in ihr neues Plaid – Dyara und sie hatten während der vergangenen Wochen je einen solchen Wollumhang gewebt und sich gegenseitig damit beschenkt – schlug Branwyn den Weg zur Heilstätte ein; sie wollte sich, weil sie heute keinen Unterricht hatte, dort nützlich machen.
    Auf dem Anger des Apfelhaines stieß sie jedoch auf Bendigeida, die sie zu einer Unterredung in ihr Rundhaus bat. Nachdem die Pendruid dort zwei Becher mit Kräutertee gefüllt und sie das wohltuend heiße Getränk gekostet hatten, musterte Bendigeida ihre Besucherin eine Weile eindringlich, dann stellte sie die ungewöhnliche Frage: »Würdest du Furcht davor empfinden, jenen Pfad zu beschreiten, der in die Anderswelt führt?«
    Im selben Moment, da die Pendruid den Satz aussprach, vermeinte Branwyn, die Felsspalte neben dem Menhir auf dem Twr vor sich zu sehen und gleichzeitig Dyaras Stimme zu hören: »Mehr darüber wirst du an Samhain erfahren, sofern Bendigeida dich einlädt, uns in das Reich von Annwn zu begleiten …«
    Ein leises Frösteln rieselte das Rückgrat der jungen Frau entlang. Sie dachte an die Beklemmungen, die sie mehrmals in der Nähe der gezackten Kluft verspürt hatte; mit demselben Lidschlag erinnerte sie sich aber auch an das, was am Morgen von Eolos Abreise dort geschehen war. Damals war sie sich ganz sicher gewesen, daß die Göttin ihr etwas ankündigen wollte; gleich einem andersweltlichen Anhauch, der sie sowohl erschreckt als auch beglückt hatte, war es gewesen – und deshalb erwiderte sie nun: »Mein Vertrauen in Ceridwen ist groß genug, um den dunklen Weg nicht zu scheuen.«
    Wieder ruhte Bendigeidas prüfender Blick lange auf dem Antlitz Branwyns, endlich erklärte sie: »Dieses Vertrauen und dazu der Wille der Göttin, welche dich ganz gewiß nicht ohne Grund nach Avalon führte, machen dich zu einer Auserwählten. Ich lade dich daher ein, uns neun Druidinnen an Samhain in die Tiefe des Twr zu folgen.«
    Die junge Frau griff nach der Hand der Pendruid und drückte sie wortlos. Danach erläuterte Bendigeida ihr, was sie im Inneren des geheimnisvollen Hügels erwarten würde, und schloß: »Dreizehn Nächte werden von heute bis Samhain noch verstreichen. Finde dich bitte täglich nach Sonnenuntergang bei mir ein, damit ich dich gründlich auf das Mysterium der Begegnung mit Ceridwen in ihrer verschleierten Gestalt vorbereiten kann.«
    »Ich werde kommen«, versprach Branwyn mit ernstem Gesichtsausdruck. Gleich darauf, als sie das Haus der Pendruid wieder verließ, stellte sie fest, daß der Wind mittlerweile fast Sturmstärke erreicht hatte. Eine heftige Bö packte sie und trieb sie ein paar Schritte in die Richtung des Twr; Branwyn vermochte sich nicht dagegen zu wehren und wollte es auch gar nicht, denn intuitiv erkannte sie darin ein Zeichen der Dreifachen Göttin.
    In sich gekehrt verbrachte sie den Tag bei den Kranken in der Heilstätte und suchte am Abend erneut Bendigeida auf. Lange saß sie mit der Obersten Druidin der Ynys Avallach zusammen, ähnlich war es während der folgenden zwölf Nächte – bis schließlich der dreizehnte Morgen anbrach, welcher der Nacht von Samhain voranging.
    ***
    Diesen ganzen Herbsttag über – es handelte sich um den letzten des zehnten Sonnenmonats – herrschte ungewöhnliche Stille auf der Insel von Avalon. Ihre Bewohner, auch die christlichen, ließen die Arbeit ruhen und suchten am Nachmittag die Gräber ihrer Angehörigen auf. Dort legten die Heiden Totenbrote nieder und stellten kleine Krüge mit Metheglyn oder Wein daneben; die Getauften entzündeten Windlichter und verharrten zusammen mit den Anhängern der keltischen Götter bis knapp vor Einsetzen der Abenddämmerung im Gebet an den Grabstätten. Dann freilich beeilten sich alle, die Totenäcker zu verlassen, um in den Schutz ihrer Häuser zu gelangen, ehe die Dunkelheit sich über das Eiland senkte. Denn mit Anbruch der Nacht öffneten sich die Pforten zwischen der Diesseitswelt und Annwn – und niemand wollte die Geister der Verstorbenen herausfordern, die jetzt nach uraltem Glauben frei durch das Land schweiften.
    Für die Druidinnen hingegen war nunmehr die Stunde gekommen, sich zur Prozession zu formieren und sich zum östlichsten Hügel der Ynys Avallach zu begeben. Bendigeida schritt dem Zug der schweigenden Frauen, von denen jede eine Fackel in der Hand trug, voran. Die anderen folgten in der Reihenfolge ihres Alters, ganz hinten gingen eng nebeneinander Dyara

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