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Die Bischöfin von Rom

Die Bischöfin von Rom

Titel: Die Bischöfin von Rom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Böckel
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Spiralen aus der Unendlichkeit Annwns heraus zu pulsen schien. Näher und näher kam der saugende Wirbel, der den Anhauch der Ewigkeit in sich barg, dann hüllte er die junge Frau ein, und aus dem andersweltlichen Tosen heraus vernahm sie die lautlos hallende Stimme:
    Ich habe dich gerufen, du bist gekommen, und ich werde zu dir sprechen! Doch zunächst sollst du jenem Mann begegnen, der einst auf der Ynys Avallach weilte und später in Judäa gekreuzigt wurde; ihm sollst du begegnen und dazu einem anderen, den du auf der Ynys Vytrin kanntest!
    Im gleichen Moment, da das letzte Wort verklang, wurde Branwyn entrückt. Tief unten, während ihr Geist bereits durch den Fels des Twr davonglitt, sah sie sich selbst im Kreis der Druidinnen stehen; gleich darauf jagte ihr körperloses Ich zwischen den Schatten der Toten über das Eiland und gelangte zum Dornbaum, der sich im Birkenhain bei der christlichen Kirche erhob.

Die Vision
    Orkanartiger Wind zerrte an den Ästen des Heiligen Dorns und peitschte die dünneren Zweige, auf denen die nadelscharfen Auswüchse saßen. Unter dem wilden Ansturm beugte sich der knorrige Stamm, einer der Risse in seiner schwärzlichen Rinde sprang mit hartem Knarzen tiefer auf. Im Wurzelwerk schien etwas zu zerbrechen, heftiges Zittern durchlief den Dornbaum – dann verwandelte sein Erbeben sich in jenen saugenden Wirbel, der aus Annwn kam. Lautlos toste der Anhauch des Ewigen durch das Rund des Birkenhains; urplötzlich wurde die Luft weich, aller irdische Aufruhr legte sich, und unter der Berührung des Andersweltlichen formte die Silhouette des Heiligen Dorns sich zu einer menschlichen Gestalt.
    In einer kurzen Schauung hatte Branwyn den Jüngling oder jungen Mann schon einmal erblickt, damals freilich war es ihr nicht möglich gewesen, sein olivfarbenes Antlitz deutlicher zu erkennen. Nun jedoch vermochte sie es, sie sah seine Gesichtszüge in allen Einzelheiten; vor allem die dunklen Augen des Juden beeindruckten sie zutiefst. Es war, als fände sie in ihnen etwas von der Liebe all jener Menschen wieder, die ihr am meisten bedeuteten oder bedeutet hatten: die grenzenlose Zuneigung Dafydds ebenso wie die mütterliche Wärme Kigvas, die innige Freundschaft Eolos, die humorvolle Zuwendung Dyaras, die weise Anteilnahme Bendigeidas oder die selbstlose Güte Vater Jacwbs, des Priesters auf der Ynys Vytrin.
    Für einen Moment verlor Branwyn sich in einem Gefühl unendlicher Geborgenheit; sie glaubte, die beglückende Nähe der Göttin zu spüren und einen Wesenszug Ceridwens in jenem Antlitz auszumachen. Mit demselben Lidschlag aber, da sie dies empfand, gab ihr Jeschu ein Zeichen, ihm zu folgen: in ein Land, dessen Steinwüsten und Bergschroffen unter gleißendem, sonnendurchglühtem Himmel dalagen.
    Sie wanderten über eine ausgedörrte Ebene, entdeckten einen Platz, wo starke Erdkraft zwischen Felsen sirrte, und dort versenkte der Galiläer, der jetzt bedeutend älter war als bei seinem Besuch auf der Ynys Avallach, sich in Meditation. Vierzig Tage und Nächte öffnete er dem Adonai rückhaltlos seinen Geist; im Ringen um das Einswerden mit dem Göttlichen befreite er sich bis an die Grenzen des Menschenmöglichen von allen hemmenden Fesseln. Er legte Furcht, Vorbehalte und Engstirnigkeit jeglicher Art ab und fand so zum Licht des umfassenden Wissens; er begriff sämtliches Dasein als Teil des Adonai und verflocht seine Erleuchtung auf diese Weise mit der druidischen Lehre, deren Erkenntnispfad er in seiner Jugend beschritten hatte.
    In der Wüste, die er im Lauf seiner Wiedergeburten nicht zum erstenmal aufgesucht hatte, vollendete er seinen Jahrtausende durchmessenden Weg zur Reife; nachdem er den Einklang mit dem Göttlichen gefunden hatte, begann er in den Dörfern und Städten Judäas zu predigen. Branwyn wurde Zeugin, wie er von Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sprach; sie erlebte mit, wie seine Worte den jüdischen Frauen und Männern, die unter der Härte der römischen Besatzungsmacht litten, neue Hoffnung vermittelten. Seine Botschaft schuf Aussöhnung, wo Haß gewesen war, und Frieden, wo Krieg in den Seelen getobt hatte; Juden und Römer gleichermaßen segnete er und machte keinen Unterschied zwischen Beschnittenen und Unbeschnittenen. Wo immer er erschien, ließ er Wunden vernarben, legte die Hände ehemaliger Gegner ineinander und forderte, Schwerter zu Pflugscharen umzuschmieden; bald folgte ihm eine Schar von Jüngerinnen und Jüngern, und zusammen mit ihnen

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