Die blaue Liste
Saxophon und in der linken eine Flasche Schnaps. Der Mann wankte wie ein überladener
Kahn, schaute abwechselnd auf das Instrument und die Flasche, überfordert mit der Entscheidung, was er zuerst in den Mund
stecken sollte.Dengler bog nach links ab, kam an dem Buddhistischen Zentrum Stuttgart der Karma Kagyü Linie e.V. vorbei, das sich ein Stockwerk mit dem Optima-Finanzservice teilte, und blieb vor einem Kerzenladen
stehen. Er las ein mit Tesafilm an der Glastür befestigtes Flugblatt:
Spüren, was uns trägt...
Seit einem Jahr trifft sich die Entspannungs- und Meditationsgruppe Stuttgart Mitte immer mittwochs von 19 – 20 Uhr im Stadtteilhaus
Mitte.
Wir sitzen und liegen je 20 Minuten mit Anleitung.
Einschlafen ist erlaubt. Ein- und Ausstieg jederzeit möglich.
Näheres unter:
Es folgte eine Telefonnummer.
Wenige Schritte weiter bog er in die Wagnerstraße ein, die besser Wagnergasse heißen sollte, mit ihren glänzenden Pflastersteinen
und den beiden engen Bürgersteigen. Die Häuser stehen nah, und die Sonnenstrahlen müssen jede List anwenden, um zum Grund
der Gasse zu gelangen; sie nutzen die Lücken zwischen Häusern, sogar offen stehende Fenster, doch nur mittags, wenn die Sonne
senkrecht über Stuttgart steht, dürfen sie sich für kurze Zeit ohne Umschweife auf den Boden fallen lassen.
Auf dieser kurzen Strecke leben noch die Überreste einer untergehenden Welt und stemmen sich mutig, aber ohne viel Hoffnung
der Gleichmacherei der Moderne entgegen, wie der meisterhafte Restaurator alter Möbel, zu dem die wohlhabenden Bürger von
weit her ihre Truhen tragen, ihre Tische und Stühle. Als habe er heilende Hände, fügt er gleichartiges Holz – oft auf schwierigem
Weg beschafft – in die künstlichen Risse, pflegt alte Bilderrahmen gesund, doch darf die Kundschaft keinen Liefertermin verlangen;
es ist erst fertig, wenn es fertig ist. Um diesen kleinen Laden sammeln sich einigeAntiquitätengeschäfte und eine helle Galerie für afrikanische Kunst, deren Exponate so wunderbar sind, dass die türkischen
Kinder aus der Nachbarschaft oft ehrfurchtsvoll staunend und einander die Hand haltend vor dem großen Schaufenster zu finden
sind.
Dazwischen auf halber Höhe das Basta, Bar und Restaurant gleichzeitig.
Es ist leicht zu erkennen an den beiden großen Glasscheiben zur Straße hin, dazwischen die Eingangstür, innen eine Bar aus
rotem Holz und ein bis zur halben Höhe getäfelter Speiseraum. Ein paar Quadratmeter Paris mitten in Stuttgart, fand Georg
Dengler, als er hier zum ersten Mal einen Grauen Burgunder trank, und sagte das zu der Frau, die neben ihm an der Theke stand.
Sie stellte sich als Helga Lehnard vor, als Eigentümerin des Basta und des dazugehörigen Hauses. Als sie erfuhr, dass Dengler eine Wohnung in Stuttgart suchte, bot sie ihm die frei gewordene
Wohnung im ersten Stock an. Seitdem wohnte er hier.
Auf der Höhe der Bar angekommen, winkte er Helga Lehnard zu, die an einem der Tische vor dem Restaurant saß. Sie unterhielt
sich mit einem älteren Mann, den Dengler nicht kannte. Dieser Gast trug eine helle Leinenjacke, die ebenso zerknittert wirkte
wie sein Gesicht, und darunter ein schwarzes T-Shirt, über dem er ein ebenfalls schwarzes Baumwollhemd trug. Eine schwarze
Stoffhose, in den Hüften etwas füllig geschnitten, nicht neu, aber doch modern. Der Dreitagebart und die ovale Brille, hinter
der zwei fröhliche und neugierige Augen glänzten, gaben dem Mann etwas Künstlerisches. Aus seinen Ohren lugte ein freches
Büschel grauer Borsten, und auch aus seiner Nase winkten zwei, drei vorwitzige Haare.
Die Vermieterin rief Dengler an den Tisch.
»Ich möchte Ihnen Ihren Nachbarn vorstellen.«
»Das hier«, sie deutete auf den älteren Mann »ist Martin Klein, der in der Wohnung neben ihnen wohnt.«Und zu Klein gewandt sagte sie: »Wie erwähnt, wir haben jetzt einen Polizisten im Haus. Darf ich vorstellen, Georg Dengler.«
»Ein ehemaliger Polizist«, korrigierte Dengler und gab Klein die Hand. Er ging dann aber zur Haustür und stieg durch den schmalen
Flur eine Treppe hinauf in seine Wohnung.
Noch immer waren seine drei Räume nicht komplett. Das erste Zimmer sollte sein Büro werden. Den Schreibtisch, bestehend aus
zwei Böcken und einer grauen Arbeitsplatte, hatte er vor einigen Tagen bei IKEA gekauft, ebenso einen dunkelblauen Schreibtischstuhl
sowie einen Ablageschrank und einen Computertisch. In der hinteren Ecke und vom
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