Die blaue Liste
Wasser und ließen sie nach dem Aufwallen drei bis vier Minuten ziehen.
In dem größten Raum der Wohnung befand sich Marios Ein-Zimmer-Restaurant »St. Amour«. Am Vorabend hatte er den langen Tisch
gedeckt, zunächst mit einem weißen Leinentischtuch, das Sonja ihm aus Frankreich mitgebracht hatte. Die Teller hatte er selbst
bei einer alternativen Töpferei in Endingen am Kaiserstuhl in Auftrag gegeben. Auf dem Boden eines jeden Tellers fand sich
ein literarisches, philosophisches oder künstlerisches Zitat. Es überraschte seine Gäste immer wieder, wenn sie die Suppe
auslöffelten und vom Grund des Suppentellers ihnen ein Aphorismus von Karl Kraus entgegenschien: Das Christentum hat die erotische Mahlzeit um die Vorspeise der Neugier bereichert und durch die Nachspeise der Reue verdorben. Aber auch das Zitat von James Joyce gefiel den meisten Gästen: Das Essen schuf Gott, die Köche der Teufel.
Nie vergaß Mario zwei Dinge: eine einzelne rote Rose in einer langstieligen Vase auf den Tisch zu stellen – die Rose sei bei
Beuys das Symbol der Revolution, behauptete er und konnte lange Monologe darüber halten – und eine Mappe mit Fotografien seiner
letzten Gemälde.
Als sie zusammen am Tisch saßen, schien es, dass Mario das Thema »Die schöne Frau als schlechte Liebhaberin« wieder aufnehmen
wollte.
»Aber Mario, Sonja ist doch auch eine schöne Frau. Gilt das denn auch für sie?«
»Quatsch, Sonja ist eine Ausnahme. Deshalb trage ich sie ja auf Händen durch die Gegend.«»Vielleicht ist Olga ja auch eine Ausnahme. Sie hat zumindest ein Handikap.«
Mario fragte, ob er noch Weißwein wolle, denn jetzt sei eigentlich ein Rotwein besser. Sie beschlossen, beim Aligoté zu bleiben,
und Mario öffnete eine neue Flasche.
»Was für eine Art von Handikap hat sie denn, deine Olga?«, fragte er spöttisch, nachdem sie den ersten Schluck getrunken hatten.
»Eine Verletzung am Zeigefinger. Er wurde wohl gestreckt, als sie ein Kind war. Sie zieht immer noch an dem Finger, aber sie
muss aufpassen, denn dann springt er aus dem Gelenk.«
Plötzlich fing Mario an zu lachen. Georg schaute ihn irritiert an, aber Mario lachte weiter.
Schließlich fragte er Georg, die Tränen standen noch in seinen Augen: »Du weißt nicht, was das bedeutet? Du als ehemaliger
Polizist weißt das nicht?«
»Nein. Was soll ich denn wissen?«
»Schau her, streck mal den Zeige- und den Mittelfinger vor -so.« Er machte es vor, Georg tat es ihm nach.
»Siehst du«, sagte Mario, «bei dir und mir, wie bei jedem normalen Menschen, ist der Mittelfinger länger als der Zeigefinger.«
Sie verglichen ihre Hände.
»Gut zwei Zentimeter«, sagte Dengler. »Wenn aber beide Finger gleich lang sind, hast du einen entscheidenden Vorteil, wenn
du jemandem in die Tasche langst.«
»Du meinst...«
»Klar, deine Olga ist eine Taschendiebin. Wahrscheinlich wurde ihr bereits als Kind der Finger gestreckt. Ich wundere mich,
dass du nicht selbst drauf gekommen bist.«
Dann wechselten sie das Thema. Sie sprachen nun von der bevorstehenden Reise zu Marios Vater.
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24
Sonntag, 27. Juni 1993
Der Fahlgelbe lenkte lässig nur mit dem Zeigefinger den schweren 7-er-BMW durch eine bepflasterte Allee, deren Ulmenbestand
die Straße überwölbte und die Fahrbahn in einen eigentümlichen Dämmerzustand versetzte. Hin und wieder huschte ein Ort vorbei,
bestehend aus wenigen Häusern, hundert Meter abseits davon meist ein Dorfteich. Und zweimal kreuzte eine Herde weißer Gänse
ihren Weg.
Es ist wie eine Zeitreise, dachte er, wie eine Zeitreise in meine Kindheit, und er spürte die Unbehaglichkeit des Hirns, das
die gesendeten Bilder am liebsten zurückgewiesen hätte, da sie aus einer ganz anderen Zeit stammten, einer Zeit, die er unwiderruflich
verloren hatte.
In Innern des Wagens hörte man die Motorgeräusche nur als leises katzenartiges Schnurren, sodass der Mann auf dem Beifahrersitz
in seinem Schlaf nicht gestört wurde. Er lehnte den Kopf rechts gegen die Fensterscheibe, und die leichte Vibration des Doppelglases
übertrug sich in seinen Schädel, beruhigte den Rhythmus seiner Gehirnströme und nahm seinen Träumen ihre psychedelische Färbung.
Beide Männer trugen Sonnenbrillen, Heinz eine große schwarze Ray Ban, der schlafende Mann bevorzugte Porsche Design mit verspiegelten
Gläsern, die seinem Gesicht das Aussehen eines gefährlichen Insekts verliehen. Sie trugen schwarze Uniformhosen aus
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