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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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den Korb auf die Räder, ließ den toten Mann aber liegen, schaufelte auch nicht die Briefe zurück, beschwerte den Korb also ungenügend und zeigte sich trotzdem erstaunt, als der Kobyella, am leichten beweglichen Korb hängend, kein Sitzfleisch bewies, sich mehr und mehr neigte, bis Jan ihn anschrie: »Alfred, ich bitt dich, sei kein Spielverderber, hörst du? Nur das Spielchen noch und dann gehn wir nach Hause, hör doch!« Oskar erhob sich müde, überwand seine immer stärker werdenden Glieder-und Kopfschmerzen, legte Jan Bronski seine kleinen, zähen Trommlerhände auf die Schultern und zwang sich zum halblauten, aber eindringlichen Sprechen: »Laß ihn doch, Papa. Er ist tot und kann nicht mehr. Wenn du willst, können wir Sechsundsechzig spielen.«
    Jan, den ich gerade noch als Vater angesprochen hatte, gab das zurückgebliebene Fleisch des Hausmeisters frei, starrte mich blau und blau überfließend an und weinte neinneinneinneinneinneinei...
    Ich streichelte ihn, aber er verneinte immer noch. Ich küßte ihn bedeutungsvoll, aber er dachte nur an seinen nicht zu Ende gespielten Grandhand.
    »Ich hätte ihn gewonnen, Agnes. Ganz sicher hätte ich ihn nach Hause gebracht.« So klagte er mir an Stelle meiner armen Mama, und ich — sein Sohn — fand mich in die Rolle, stimmte ihm zu, schwor darauf, daß er gewonnen hätte, daß er im Grunde schon gewonnen habe, er müsse nur fest daran glauben und auf seine Agnes hören. Aber Jan glaubte weder mir noch meiner Mama, weinte erst laut und hoch klagend, dann leise einem unmodulierten Lallen verfallend, kratzte die Skatkarten unter dem erkalteten Berg Kobyella hervor, zwischen den Beinen schürfte er, die Brieflawine gab einige her, nicht Ruhe fand Jan, bis er alle zweiunddreißig beisammen hatte. Und er säuberte sie von jenem klebrigen Saft, der dem Kobyella aus den Hosen sickerte, gab sich Mühe mit jeder Karte und mischte das Spiel, wollte wieder austeilen und begriff endlich hinter seiner wohlgeformten, nicht einmal niedrigen aber wohl doch etwas zu glatten und undurchlässigen Stirnhaut, daß es auf dieser Welt keinen dritten Mann für den Skat mehr gab.
    Da wurde es sehr still in dem Lagerraum für Briefsendungen. Auch draußen bequemte man sich zu einer ausgedehnten Gedenkminute für den letzten Skatbruder und dritten Mann. War es Oskar doch, als öffnete sich leise die Tür. Und über die Schulter blickend, allesüberirdisch Mögliche erwartend, sah er Viktor Wehluns merkwürdig blindes und leeres Gesicht. »Ich habe meine Brille verloren, Jan.
    Bist du noch da? Wir sollten fliehen. Die Franzosen kommen nicht oder kommen zu spät. Komm mit mir, Jan. Führe mich, ich habe meine Brille verloren!«
    Vielleicht dachte der arme Viktor, er habe sich im Raum geirrt. Denn als er weder eine Antwort noch seine Brille, noch Jans fluchtbereiten Arm geboten bekam, zog er sein brillenloses Gesicht zurück, schloß die Tür, und ich hörte noch einige Schritte lang, wie sich Viktor tastend und einen Nebel teilend auf die Flucht machte.
    Was mochte in Jans Köpfchen Witziges passiert sein, daß er erst leise, noch unter Tränen, dann jedoch laut und fröhlich dem Lachen verfiel, seine frische, rosa, für allerlei Zärtlichkeiten zugespitzte Zunge spielen ließ, die Skatkarten hochwarf, auffing, und endlich, da es windstill und sonntäglich in der Kammer mit den stummen Männern und Briefen wurde, begann er mit vorsichtigen ausgewogenen Bewegungen, unter angehaltenem Atem ein hochempfindliches Kartenhaus zu bauen: da gaben Pique Sieben und Kreuz Dame das Fundament ab. Die beiden deckte Karo, der König. Da gründete er aus Herz Neun und Pique Aß, mit Kreuz Acht als Deckel drauf, das zweite, neben dem ersten ruhende Fundament. Da verband er die beiden Grundlagen mit weiteren hochkant gestellten Zehnen und Buben, mit quergelegten Damen und Assen, daß sich alles gegenseitig stützte. Da beschloß er, dem zweiten Stockwerk ein drittes draufzusetzen, und tat das mit beschwörenden Händen, die, ähnlichen Zeremonien gehorchend, meine arme Mama gekannt haben mußte. Und als er Herz Dame so gegen den König mit dem roten Herzen lehnte, fiel das Gebäude nicht etwa zusammen; nein, luftig stand es, empfindsam, leicht atmend in jenem Raum voller atemloser Toter und Lebendiger, die den Atem anhielten, und erlaubte uns, die Hände zusammenzulegen, ließ den skeptischen Oskar, der ja das Kartenhaus nach allen Regeln durchschaute, den beizenden Qualm und Gestank vergessen, der sparsam

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