Die Blechtrommel
vor, schloß, weil sie sich immer noch nicht entscheiden konnte, geheimnisvoll mit den Worten: »Ein wenig Unternehmungsgeist, Schwester Gertrud! Man ist nur einmal jung. An Kuchenmarken soll es bestimmt nicht fehlen.« Den Text begleitend, klopfte ich leicht stilisiert gegen das Tuch vor meiner Brusttasche, bot ihr noch ein Stückchen Konfekt an und bekam merkwürdigerweise einen gelinden Schreck, als das derb westfälische Mädchen, das ganz und gar nicht mein Typ war, zum Salbenschränkchen hingewendet hören ließ: »Na denn gut, wenn Sie meinen. Sagen wir um sechs, aber nicht hier, sagen wir, am Corneliusplatz.«
Niemals hätte ich Schwester Gertrud ein Treffen in der Eingangshalle oder vor dem Hauptportal der Krankenanstalten zugemutet. So erwartete ich sie um sechs unter der damals noch kriegsbeschädigten, keine Zeit ansagenden Normaluhr am Corneliusplatz. Sie kam pünktlich, wie ich auf meiner Wochen zuvor erstandenen, nicht allzu kostbaren Taschenuhr nachlesen konnte. Fast hätte ich sie nicht erkannt; denn hätte ich sie rechtzeitig, sagen wir, an der fünfzig Schritt entfernten, quer gegenüberliegenden Straßenbahnhaltestelle aussteigen sehen, bevor sie mich bemerken konnte, hätte ich mich verdrückt, enttäuscht davongemacht; denn Schwester Gertrud kam nicht als Schwester Gertrud, nicht in Weiß kam sie mit der Rotkreuzbrosche, sondern als x-beliebiges, Zivilkleidung dürftigster Machart tragendes Fräulein Gertrud Wilms aus Hamm oder Dortmund oder sonstwoher zwischen Dortmund und Hamm.
Sie bemerkte meinen Mißmut nicht, erzählte, daß sie fast zu spät gekommen wäre, weil die Oberschwester ihr aus reiner Schikane noch kurz vor fünf etwas aufgetragen habe.»Nun, Fräulein Gertrud, darf ich einige Vorschläge machen? Vielleicht beginnen wir ganz zwanglos in einer Konditorei und hinterher, was Sie mögen: eventuell Kino, fürs Theater werden leider keine Karten mehr zu bekommen sein, oder wie wäre es mit einem Tänzchen?«
»Au ja, gehn wir tanzen!« begeisterte sie sich und merkte zu spät, dann jedoch ihren Schreck kaum verbergend, daß ich als ihr Tanzpartner eine zwar gutangezogene, dennoch unmögliche Figur machen würde.
Mit leichter Schadenfreude — warum war sie auch nicht in jener von mir so geschätzten Krankenschwesterntracht gekommen -festigte ich den einmal von ihr gutgeheißenen Plan, und sie, der es an Vorstellungskraft fehlte, gab den Schreck bald auf, aß mit mir, ich ein Stückchen, sie drei Stückchen Torte, in der Zement verbacken sein mußte, stieg, nachdem ich mit Kuchenmarken und Bargeld gezahlt hatte, mit mir bei Koch am Wehrhahn in die Straßenbahn Richtung Gerresheim ein, denn unterhalb Grafenberg mußte nach Korneffs Angaben ein Tanzlokal sein.
Das letzte Stück bergauf gingen wir, weil die Straßenbahn vor der Steigung hielt, langsam zu Fuß. Ein Septemberabend, wie er im Buche steht. Gertruds bezugscheinfreie Holzsandalen klapperten gleich der Mühle am Bach. Das machte mich fröhlich. Die Leute, die bergab kamen, drehten sich nach uns um. Dem Fräulein Gertrud war das peinlich. Ich war's gewohnt, nahm keine Rücksicht: schließlich waren es meine Kuchenmarken gewesen, die ihr zu drei Stückchen Zementtorte in der Konditorei Kürten verhelfen hatten.
Das Tanzlokal hieß Wedig und führte den Untertitel: Löwenburg. Schon an der Kasse gab es Gekicher, und, als wir eintraten, verdrehte Köpfe. Schwester Gertrud wollte in ihrer Zivilkleidung unsicher werden, wäre fast über einen Klappstuhl gestolpert, hätten der Kellner und ich sie nicht gehalten. Jener wies uns einen Tisch nahe der Tanzfläche, und ich bestellte zweimal Kaltgetränk, fügte leise, nur dem Kellner vernehmlich hinzu: »Aber mit Schuß bitte.«
Die Löwenburg bestand zur Hauptsache aus einem Saal, der frühe: einer Reitschule gedient haben mochte. Mit Papierschlangen und Girlanden vom letzten Karneval hatte man die oberen Regionen, die reichlich beschädigte Decke verhängt. Halbdunkle, dazu gefärbte Lie-ter kreisten, warfen Reflexe auf die straff zurückgekämmten Haare junger, teilweise eleganter Schwarzhändler und auf die Taftblusen der Mädchen, die sich alle untereinander zu kennen schienen.
Als das Kaltgetränk mit Schuß serviert wurde, erstand ich beim Kellner zehn Amis, bot Schwester Gertrud eine an, eine dem Kellner, der sie sich hinters Ohr steckte, und nahm, nachdem ich meiner Dame Feuer gegeben hatte, Oskars Bernsteinspitze hervor, um eine Camel bis knapp zur Hälfte zu rauchen. Die
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