Die Bleiche Hand Des Schicksals
Es war dunkel und still. Sie wartete einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ehe sie zum Gartenende lief, über den niedrigen Zaun kletterte und sich zwischen zwei Ställen hindurchschlich, die mit ihrem eigenen fast identisch waren.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie auf die Wharf Street trat. Ihre Beine, ihr Rücken und ihre Arme zitterten vor Verlangen, Hals über Kopf die Straße hinunterzurennen, aber sie zwang sich, sich den Anschein einer Frau zu geben, die nach einem Kartenabend bei Freunden nach Hause schlendert. Lichter brannten. Die Leute waren daheim. Sie erwartete, jeden Moment angesprochen zu werden, erwartete, blinkende Lichter um die Ecke biegen zu sehen, die Polizei, die nachschauen wollte, was Jonathons Wagen neben dem Friedhof zu suchen hatte. Nichts. Sie hatte, ohne es geplant zu haben, den magischen Zeitpunkt getroffen, zu dem sich die Familien in ihre Häuser zurückgezogen hatten und ehe die Hunde zum letzten Mal ausgeführt wurden.
Das Auto stand da, wo sie es zurückgelassen hatte. Sie brauchte zwei Versuche, um die Tür zu öffnen, weil ihre Hand so zitterte. Sie ließ den Motor an, setzte rückwärts auf die Straße und fuhr die Burgoyne Street hoch, in Richtung Route 100, die aus der Stadt führte. Sie brachte Jonathon nach Hause.
35 Montag, 3. April
S ie glauben, meine Mutter hätte meinen Vater getötet.« Es war keine Frage. Mrs. Marshall sah Russ mit all der Würde ihrer siebzig und mehr Jahre an. »Das ist unmöglich.«
»Wir haben keine Möglichkeit, es juristisch einwandfrei zu beweisen«, sagte er mit sanfter Stimme. »Aber wenn wir von den physischen Indizien und den in der Akte aufgelisteten Tatsachen ausgehen …«
»Wenn sie verdächtig gewesen wäre, hätte die Polizei sie überprüft. Niemand, außer ein paar Tratschmäulern mit schmutziger Phantasie, hat jemals auch nur angedeutet, dass meine Mutter etwas mit dem Verschwinden meines Vaters zu tun haben könnte.«
Russ klopfte auf die alte grüne Polizeiakte. »Sie wurde überprüft. Bis zu einem gewissen Grad. Der damalige Polizeichef, Harry McNeil, hat sich ihr Haus angesehen und mit den Nachbarn gesprochen. Ihre Aussage lautete, dass ihr Mann nach einem Streit verschwand und sie ihn nie wieder sah, und es gab keine Beweise, die das widerlegten.«
»Na dann.« Norm Madsen legte seinen Arm auf die Rückenlehne von Mrs. Marshalls Stuhl. »Da haben Sie’s.«
Russ schüttelte den Kopf. »McNeil war voreingenommen, nicht zuletzt, weil es für ihn unvorstellbar war, dass eine Frau ihren Mann ermordet und seine Leiche verschwinden lässt.«
»Augenblick mal. War das nicht die Ära von Bonnie und Clyde und Ma Barker und all diesen weiblichen Gangstern?« Clare verschränkte die Arme vor der Brust.
»Sicher. Frauen konnten Morde begehen. Schlechte Frauen. Aber im Allgemeinen wurden Frauen als das sanftere, bessere Geschlecht betrachtet. Jane Ketchem, eine gesetzesfürchtige, fromme Frau, passte genau in dieses Schema.«
Clare sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»McNeil hat sie ein einziges Mal befragt, in ihrem Haus, zwei Tage nach Jonathons Verschwinden. Zu diesem Zeitpunkt konnte sie schon alle Spuren beseitigt haben.« Er drehte sich ein wenig, um Mrs. Marshall direkt anzusehen. »Wenn heute so etwas passieren würde, brächten wir die Frau zum Verhör aufs Revier. Wir würden das Haus in der Annahme durchsuchen, dass sie es getan hat, nach Fingerabdrücken, Fasern, Blut-und Knochenspuren durchkämmen. Mit einer Technologie, von der man damals nur träumen konnte.«
Clare öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.
»Sie behaupten, dass meine Mutter davonkam, weil die Polizei sie mit Samthandschuhen anfasste.« Zum ersten Mal enthielt Mrs. Marshalls Ton noch etwas anderes als steife Empörung.
Er nickte.
Sie saß einen Moment schweigend da. »Ich kenne keine Frau, die strengere Moralvorstellungen besäße als meine Mutter«, sagte sie schließlich.
»Niemand von uns weiß, was an jenem Abend geschah«, sagte Russ. »Vielleicht hat er Ihre Mutter misshandelt, und sie ist durchgedreht. Vielleicht hat sie sich verteidigen müssen. Vielleicht war es auch ein tragischer Unfall, den sie vertuschen wollte.« Er beugte sich vor, bis sie ihm in die Augen sehen musste. »Es tut mir sehr leid. Ich hoffe nur, dass Sie Trost darin finden, endlich zu wissen, was mit Ihrem Vater geschehen ist.«
»Mein Vater«, sagte sie. Sie wandte sich an Clare. Ihr roter
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