Die Bleiche Hand Des Schicksals
verschlossen.
Sie tippelte zurück ins Schlafzimmer, verbrachte ein paar Minuten mit der vergeblichen Suche nach ihren Hausschuhen und zog schließlich dicke Wollsocken an, ehe sie sich auf die Suche nach dem Fenster begab, das ihre kostspielige, ölbefeuerte Wärme entweichen ließ.
Sie konnte sich nicht erinnern, bei ihrer Ankunft gestern Nacht irgendein Fenster geöffnet zu haben, aber sie hatte praktisch im Stehen geschlafen. Nach ihrer Begegnung mit den verstorbenen Kindern der Ketchems – nur nicht daran denken – hatte sie Debba Clow zu dem Haus gefahren, das diese mit ihrer Mutter teilte. Debba hatte sich einem Strom endloser Spekulationen hingegeben; was Dr. Rouse wohl zugestoßen war, was die Polizei vermutete, wie ihr Ex wohl reagierte, wie sich die ganze Sache auf die Sorgerechtsklage auswirken würde.
Nachdem Clare die verängstigte Frau vor ihrer Haustür abgesetzt hatte, war sie nach Hause gefahren, nur um in ihrer Einfahrt einen Abschleppwagen vorzufinden, der Debbas Auto an die Kette genommen hatte.
Clare war ausgestiegen und hatte zu wissen verlangt, was hier vor sich ginge, aber nur eine lakonische Antwort erhalten. »Beschlagnahmt. Polizei.« Der Fahrer des Abschleppwagens, ein Mann so plump und glupschäugig wie ein Karpfen, hatte tatsächlich das ganze Auto mit gelbem Klebeband umwickelt, bevor er es auf die Ladefläche hievte und damit die Elm Street hinunterknatterte.
Trotz der späten Stunde, oder vielleicht gerade deswegen, hatte Clare bemerkt, wie bei vielen ihrer Nachbarn Licht anging und Vorhänge zur Seite geschoben wurden. Aber ja doch, nur eine weitere langweilige Nacht im Pfarrhaus.
Sie prüfte den Thermostat im Esszimmer und erkannte, warum ihr Haus langsam in eisiger Kälte erstarrte. Der Thermostat war auf 15 Grad eingestellt, das Thermometer registrierte aber nur 10. Sie drehte den Thermostat hoch und erwartete, das leise Fauchen des anspringenden Brenners zu vernehmen, aber alles blieb still.
»Wunderbar«, sagte sie zur Wand.
In der Küche stellte sie den Backofen auf 200 Grad und machte die Klappe auf. Dann rief sie bei ihrem Öllieferanten an und bat darum, schnellstmöglich einen Monteur zu schicken. Sie war ziemlich gut, was Motoren betraf – sie konnte an Autos herumbasteln und einfache Reparaturen an kleinen Flugzeugen ausführen –, aber sie würde auf gar keinen Fall versuchen, ihren Heizkessel zu reparieren. Der Heizungsmonteur war bei einem Kunden, würde aber zum Pfarrhaus fahren, wenn er seine Vormittagstermine erledigt hatte – nicht später als vierzehn Uhr. Allerspätestens fünfzehn Uhr.
»Sagen Sie ihm, dass die Tür unverschlossen ist und ein Scheck auf dem Küchentisch liegt«, sagte sie. Sie hätte sich um eine Pfarrstelle in Südflorida bewerben können und so vermieden, dabei zusehen zu müssen, wie sich ihr Haus in ein riesiges Gefrierfach verwandelte, aber andererseits hätte sie in Miami nicht das Haus unverschlossen und einen Blankoscheck auf dem Tisch liegen lassen können. Mit diesem Gedanken tröstete sie sich, während sie sich in ihre Kleidungsstücke kämpfte und dabei wegen der Kälte den Bademantel anließ. Sie erwog einen Moment lang, ein Feuer im Wohnzimmer anzuzünden, aber bei der Vorstellung, was passieren mochte, wenn sie nicht hier blieb, um darauf aufzupassen, verwarf sie die Idee wieder.
Stattdessen griff sie nach ihrem Parka und den Autoschlüsseln. Mit einem Sack voller Fragen brach sie zu Mrs. Henry Marshall auf. Auf der Fahrt schwankte sie zwischen Frustration, weil man sie über Jane Ketchem im Dunkeln gelassen hatte, Verständnis für Mrs. Marshalls Schweigen über die schweren Verluste ihrer Familie und tiefer Verwirrung über die Rolle, die Dr. Rouse in dem Ganzen spielte.
Mrs. Marshalls Klingel saß in einer rechteckigen Chrom-und Acrylplatte, das Beste, was die Sechziger zu bieten hatten. Clare hörte ein leises »Herein«, nachdem sie darauf gedrückt hatte, und öffnete die Tür.
»Mrs. Marshall? Ich bin’s, Clare Fergusson.«
»Ich bin hier hinten, in der Küche«, rief Mrs. Marshall. Sie erschien in dem Türrahmen am Ende des Korridors und wischte sich die Hände an der Schürze ab, die sie über ihre Wollhose gebunden hatte. Ihr Lippenstift war ringelblumenorange, fast derselbe Farbton wie ihr Stehkragenpullover, und über die Länge des Flurs hinweg und dank der Schatten, die das Gesicht weichzeichneten, konnte Clare beinah die schlanke, elegante Matrone vor sich sehen, die in den 1960ern in dieses
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