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Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Stielen. »Was ist passiert?«
    »Diphtherie.« Mrs. Marshall bückte sich und holte einen leeren Milchkarton unter der Spüle hervor. »Bioabfälle hier rein.« Sie warf die Eierschalen hinein und nahm ein weiteres Ei. »Damals nannte man sie die Rachenbräune. Alle vier starben innerhalb einer Woche.«
    »Aber Sie nicht.«
    »Ich wurde erst fünf Monate später geboren.«
    Clare schob den geschnittenen Brokkoli auf eine Seite des Holzbretts. Sie dachte an ihre eigenen Eltern, an deren Kummer nach dem Tod ihrer Schwester Grace, der ihr Leben zu einem langen, finsteren Tunnel der Trauer reduzierte. »Ich kann mir nicht vorstellen, wie Eltern mit einem so gewaltigen Schmerz leben können.«
    »Meine Mutter hat nie von ihnen gesprochen. Nie. Alles, was ich weiß, weiß ich von meinen Großeltern.« Mrs. Marshall schlug ein weiteres Ei auf, warf die Schalen weg. »Aber der Verlust begleitete sie Tag für Tag.« Sie sah Clare direkt an. »Sie liebte mich hingebungsvoll, daran habe ich nie gezweifelt, aber ich wusste gleichzeitig, dass ich sie ständig an meine toten Brüder und Schwestern erinnerte. Der Schmerz zerstörte sie am Ende.« Sie schüttelte den Kopf. »Nachdem ich erwachsen geworden und nach meiner Heirat von zu Hause weggezogen war, ereigneten sich einige Unfälle, die keine Unfälle waren. Sie bremste sich immer noch rechtzeitig, aber mir war klar, dass sie versuchte, sich etwas anzutun. Damals hat Henry sich um die Versetzung bemüht, damit wir hierher ziehen konnten. Um uns um Mutter zu kümmern.«
    Clare streckte den Arm aus und legte ihre Hand auf Mrs. Marshalls dünnen Arm. Er fühlte sich an wie in Wolle gehüllte Vogelknochen. »Es tut mir so leid. Ist sie auf diese Weise gestorben?«
    »Überraschenderweise nicht; sie wurde vierundsiebzig Jahre alt. Sie erlag schließlich einer Lungenentzündung. Dr. Rouse hat sie am Ende behandelt.« Sie lächelte wieder, dieses kleine, traurige Lächeln. »Er war ihr Protegé.«
    Und nun wurde er vermisst, nach einem Besuch an den Gräbern der vor langer Zeit verstorbenen Kinder von Jane Ketchem. »Können Sie sich vorstellen, warum er Debba Clow zu einem Besuch an den Gräbern Ihrer Brüder und Schwestern mitnehmen wollte?«
    »Das ist doch die Frau, die gegen Impfungen demonstriert, oder?«
    »Ja.«
    »Dann würde ich meinen, dass ihr die Geschichte meiner Familie eine Lehre sein sollte. Laut meiner Großmutter starben die Kinder, weil meine Eltern sie nicht impfen lassen wollten.«
    »Sie machen Witze.« Clare schlug sich die Hand vor den Mund. »Verzeihung, das war respektlos, das wollte ich nicht. Ich wollte nur sagen, dass es schwer vorstellbar ist.«
    »Nun, die Diphtherieimpfung war damals ziemlich neu und nicht weit verbreitet. Meine Großmutter hat meinen Eltern niemals einen Vorwurf gemacht. Sie sagte, eine Menge Leute hätten sich damals gefragt, ob die Impfungen selbst die Ursache der wachsenden Liste von Krankheiten waren, von geistiger Behinderung bis zu Geschlechtskrankheiten.« Sie schlug ein weiteres Ei auf und warf die Schalen fort. »Und außerdem glaubten die Menschen, die ein gesundes sauberes Leben auf einer Farm führten, nicht, dass sie Diphtherie bekommen könnten. Man hielt sie für eine Seuche der Elendsviertel, die von ungewaschenen Immigranten weitergegeben wurde.« Mrs. Marshall sah Clare mit nüchternem Blick an. »Sie werden die Argumentation wiedererkennen. Es scheint, dass die menschliche Natur sich nicht ändert, nur die Namen der Seuchen.«
    »Glauben Sie, dass Ihre Eltern sich die Schuld gaben?«
    »Ich bin dessen sicher. Sie trafen, wie sie glaubten, die richtige Entscheidung, im Interesse ihrer Kinder, und sie verloren alles.« Mrs. Marshall legte die Hände an die metallene Rührschüssel und hielt sie geistesabwesend fest, während sie wieder aus dem Fenster schaute. »Ich glaube, das ist der wahre Grund, warum ich niemals Kinder hatte.«
    Clare musste eine unwillkürliche Geste gemacht haben, denn Mrs. Marshall drehte sich zu ihr um.
    »O ja, es war meine Entscheidung. Die Leute glaubten, Henry und ich hätten einfach kein Glück gehabt, aber wir wussten schon vor unserer Heirat, dass wir beide keine Kinder wollten. Tatsächlich habe ich vorher zwei Männer abgewiesen, weil ich wusste, dass sie eines Tages eine eigene Familie gründen wollten. Aber wenn ich darüber nachdenke« – sie hielt inne, kaute auf der Lippe, so dass auf ihren Schneidezähnen ein winziger ringelblumenfarbener Fleck erschien –, »erkenne ich,

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