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Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Schuhe an der Matte ab, ehe er eintrat. Die winzige Diele führte direkt ins Wohnzimmer. Ein Haufen Bauklötze lag neben dem Radio verstreut. »Sie haben Kinder?«, fragte er.
    Sie legte gerade den Mantel ab und hielt mitten in der Bewegung inne. »Ein kleines Mädchen.«
    »Ist sie in der Schule?«
    »Sie ist bei einem der Nachbarn zum Spielen.« Er folgte ihr ins Wohnzimmer. »Sie fragt ständig, wo ihr Vater ist. Ich weiß einfach nicht, was ich ihr sagen soll.«
    Sie blieb mitten im Wohnzimmer stehen, ihr Blick glitt über Sofa und Sessel zum Schaukelstuhl, als hätte sie das Zimmer nie zuvor gesehen. Er hatte andere Menschen dasselbe tun sehen, wenn das Unglück über ihr Haus hereinbrach. Die Leute verloren den Halt, verirrten sich im Vertrauten. Er machte es ihr leichter, indem er sich in den Schaukelstuhl setzte und sie zu dem anderen Sessel winkte.
    »Also, was macht ihr Mann denn beruflich?«
    Sie sah ihn an. Ihre Augen hatten rote Ränder. »Er … er hat dies und das versucht …«
    Trinkt, dachte Harry. Oder hat seinen Job verloren und redet sich raus, dass er schon einen neuen findet.
    »Wir hatten eine Farm im Sacandaga Valley, bis das Conklingville-Damm-Projekt uns vorletztes Jahr entschädigt hat. Mein Mann hat etwas von dem Geld in die Farm seiner Eltern gesteckt und etwas ins Geschäft seines Bruders. David besitzt eine Tankstelle mit Werkstatt in Lake George.«
    »David ist Ihr Schwager?« Das Gespräch über ihre Verwandtschaft machte ihm bewusst, was in dem Raum nicht stimmte. Es gab keine Familienfotos. Kein einziges.
    »Ja.«
    Harry nickte. »Reichte es nicht, um eine neue Farm zu kaufen?« Er wusste, dass einige der Leute, die Grund im Dammbaugebiet besessen hatten, von Bodenspekulanten übers Ohr gehauen worden waren, ehe die offiziellen Enteignungsbescheide zugestellt wurden.
    »Ich weiß nicht. Vermutlich doch.« Sie wandte den Blick ab. »Jonathon wusste nicht, ob er wirklich als Farmer weitermachen wollte. Es ist ein schweres Leben, verstehen Sie. Er dachte, vielleicht würden die Dinge besser, wenn wir in der Stadt blieben.«
    »Dinge?«
    Eine schwache Andeutung von Röte legte sich auf ihre hohen Wangenknochen. »Er hat kurz für die Elektrizitätsgesellschaft gearbeitet, aber er wurde als Letzter eingestellt und als Erster entlassen, als sie Stellen gestrichen haben. Seit damals hat er hier und dort gearbeitet, aber nicht fest. Außerdem hilft er noch auf Vater Ketchems Farm.«
    Er beschloss zu ignorieren, dass sie seine Frage überhört hatte. Vor seinem inneren Auge entstand das Bild eines Mannes, der seine Rolle als Farmer, Landbesitzer und Ernährer verloren hatte und nun davon abhängig war, seinem alten Herrn auf der Farm auszuhelfen, um sich und seinen Stolz über Wasser zu halten. »Erzählen Sie mir, wann Sie ihn das letzte Mal gesehen haben«, bat er.
    Sie straffte die Schultern unter der unförmigen Strickjacke und runzelte abwesend die Stirn, als hielte sie Ausschau nach dem exakten Punkt in der Vergangenheit, an dem alles begonnen hatte. »Er ist den ganzen Tag zu Hause gewesen. Sein Magen machte ihm zu schaffen – das war in letzter Zeit häufig der Fall. Er war ziemlich gereizt … ich erinnere mich, dass ich unsere Tochter von ihm ferngehalten habe.« Ihr Blick fiel auf die Bauklötze auf dem Teppich, und ihre angespannte Miene wurde einen Moment lang weich. »Nachdem sie zu Bett gegangen war, stritten wir uns. Es war eine dieser albernen Streitigkeiten, verstehen Sie, erst sagt man was, dann antwortet er, und im nächsten Moment geht man aufeinander los, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen ist.« Sie stieß die Luft aus. »An diesem Abend ist er mit dem Auto verschwunden, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.«
    Harry zog sein Notizbuch aus der Brusttasche. »Wann war das?«
    »Samstagabend. Am neunundzwanzigsten.«
    Er hielt in seiner Suche nach einem Bleistift inne. »Er ist seit zwei Tagen weg?«
    »Genau. Ich habe mir eingeredet, er wäre irgendwo hingefahren, um sich abzuregen, aber als er gestern Abend auch nicht nach Hause kam … Ich weiß, dass ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist.«
    Harry lehnte sich an die polierte Rückenlehne des Schaukelstuhls. »Mrs. Ketchem, wir können einen Mann nicht für vermisst erklären, nur weil er ein paar Nächte nicht nach Hause kommt. Haben Sie bei seiner Familie nachgefragt?«
    »Ich habe vom Nachbarn aus telefoniert, als er gestern Abend nicht zum Essen kam. Mutter und Vater Ketchem sind nicht zu Hause, aber

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