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Die Bleiche Hand Des Schicksals

Die Bleiche Hand Des Schicksals

Titel: Die Bleiche Hand Des Schicksals Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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vorzustellen, was dort passiert ist.«
    »Ehe Sie wegen Debba Clow wieder das hohe Ross besteigen, möchte ich Ihnen versichern, dass die Polizei von Millers Kill sie offiziell nicht als Verdächtige betrachtet.«
    »Zu diesem Zeitpunkt.«
    »Zu diesem Zeitpunkt«, bestätigte er. »Es erscheint mir durchaus möglich, dass Rouse noch irgendwo am Leben ist, aber da wir die Krankenhäuser in einem Umkreis von fünfzig Meilen abgefragt haben, hege ich keine allzu großen Hoffnungen. Aber wer weiß? Vielleicht haben die Amish ihn aufgenommen, und er erholt sich im Schlafzimmer einer schönen Witwe, wie im Film.«
    »Wird das Gelände weiter nach ihm abgesucht?«
    »Als ich ging, traf gerade die Bergwacht mit zwei Hunden ein. Als ich heute Morgen um sieben Uhr nachgefragt habe, hatten sie noch keine Spur vom Doktor.« Er bog in die Main Street ab. »Ich bringe Sie zu Ihrem Auto.«
    »Nehmen Sie mich mit«, sagte sie. »Ich will mir diese Grabsteine genauer ansehen. Ich habe heute Morgen mit Mrs. Marshall gesprochen.« Sie fasste sich an den Hals, wo ihr Kragen gesessen hätte, wenn sie statt ihres Pullovers ihr Geistlichengewand getragen hätte. »Sie sagte, all ihre Brüder und Schwestern wären an Diphtherie gestorben, als ihre Mutter mit ihr schwanger war. Die Eltern hatten sich gegen die Impfung entschieden. Können Sie sich so etwas Furchtbares vorstellen?«
    Seine Erinnerung glitt nach Stuttgart, zu der Müllkippe, dem Öffnen des Müllbeutels, glitschig und widerlich von einer verfaulten Frucht, und dem Säugling darin. Einer seiner Kameraden bei der Militärpolizei hatte begonnen zu weinen. Etwas musste sich auf seinem Gesicht abgezeichnet haben, denn Clare beugte sich zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Natürlich können Sie das. Es tut mir leid. Die Frage war gedankenlos.«
    »Nein«, sagte er. »Wenn man etwas Schreckliches erlebt hat, sollte das andere schreckliche Dinge nicht weniger …« Er suchte nach dem richtigen Wort.
    »Schmerzlich machen?«
    »Ja.« Er schaltete den Blinker ein und bog auf die Mill Road ab. Sie fuhren an den alten Fabriken vorbei, reichgeschmückten Backsteinmausoleen des Wohlstands der Stadt, in Richtung der Old Route 100, die in die Berge führte.
    »Wie viele Jahre sind Sie schon Polizist?«, fragte sie.
    »Mittlerweile mehr als fünfundzwanzig. Die längste Zeit natürlich beim Militär.«
    »Aber sind Sie nicht … ich weiß nicht, abgestumpft von dem, was Sie gesehen haben? Abgehärtet durch all die tragischen Erlebnisse?«
    Er war nicht sicher, was sie mit »abgehärtet« meinte, aber er ahnte es. »Eine Zeit lang war ich das. Gegen Ende meiner Militärlaufbahn fühlte ich mich an manchen Tagen, als sei ich in durchsichtigen Kunststoff eingeschlossen. Als könnte ich alles um mich herum sehen und hören, aber nichts berührte mich. Keine Gefühle mehr. Ich trank natürlich viel, aber ich fühlte mich nie betrunken. Sie wissen schon, glücklich und frei und ungehemmt. Aber eigentlich war ich nur wie benommen.« Er sah aus dem Seitenfenster auf den Millers Kill, den Fluss, der seiner Stadt den Namen gegeben hatte, wie er in diesen letzten Wintertagen seicht und langsam dahinfloss, ehe der Schnee schmelzen und das eisige Wasser aus den Bergen herabschießen würde.
    »Was ist dann passiert?«
    »Linda«, sagte er. »Sie besuchte diese Anonyme-Alkoholiker-Treffen für die Angehörigen. Sie stellte mir ein Ultimatum. Schnaps oder sie. Dann flog sie zu ihrer Schwester. Sie war drei Tage fort, als mir klar wurde, dass es ihr ernst war. Darauf folgten die beiden schlimmsten Wochen meines Lebens. Sie fehlte mir wie verrückt, und gleichzeitig hasste ich sie für das, was ich wegen ihr durchmachen musste. Mann, ich habe die ganze Bandbreite mitgemacht – Zittern, Schwitzen, Krämpfe, Übelkeit –, ich sah aus wie Ray Milland in Das verlorene Wochenende. Dann kehrte sie nach Hause zurück, und ich ging wieder zur Arbeit und klappte plötzlich zusammen.«
    »Klappte zusammen?«
    »Ich begann … ich konnte nicht … ich musste nach Hause. Ich begann zu weinen und konnte nicht aufhören. Linda dachte, ich würde sterben oder so. Ich glaube, man könnte sagen, ich hatte so eine Art Nervenzusammenbruch. Deshalb habe ich den Dienst quittiert.«
    Ihre Hand lag noch immer auf seiner Schulter. »Ein Glück, dass Sie Linda haben.«
    »Als wenn ich das nicht wüsste. Wenn sie nicht wäre, würde ich heute nicht mehr leben.« Es war ein vertrauter Gedanke, wie ein Stein, den man in

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