Die Blendende Klinge
»Wie auch das Risiko, eins auf die Nase zu kriegen.«
Er hob abwehrend die Hände und machte einen Schritt zurück. »Ich habe nicht behauptet, dass ich auch tapfer bin.« Er bot ihr den Arm, und sie nahm ihn, wobei sie bei aller Abwehrhaltung nicht vermeiden konnte, dass sich ein Grinsen auf ihre Lippen stahl. »Hm. Oh, mir ist gerade etwas eingefallen. Wer war denn der Farbprinz eigentlich? Bevor er verbrannt wurde?«
»Koios Weißeiche. Warum?«
»Reine Neugier.« Karris’ Bruder?
»Wir machen kein Geheimnis daraus. Was jemand war, ist für uns weniger wichtig als das, was er oder sie ist oder werden wird. Jetzt musst du an deinem Wandeln arbeiten. Du musst eine Menge Dinge vergessen und noch mehr neu lernen.«
»Ich gehe trotzdem nicht mit dir ins Bett«, sagte sie entschlossen.
»Wir werden daran arbeiten«, erwiderte er mit einem Zwinkern und einem breiten Grinsen.
Und damit begann Livs Ausbildung.
39
Als Kip um Mitternacht aus der Bibliothek schlurfte, erwartete ihn Eisenfaust am Aufzug. Der riesige Hauptmann sagte nichts, gab ihm jedoch ein Zeichen.
Kip war sofort hellwach. Hungrig, aber hellwach. Es überraschte ihn zu sehen, dass auch Adrasteia beim Hauptmann war. Sie traten zusammen in den Aufzug, Hauptmann Eisenfaust schob einen Schlüssel in ein Schloss und brachte sie in ein tiefes Untergeschoss der Chromeria. So weit unten war Kip bisher noch nie gewesen. Er sah Teia fragend an. Sie erwiderte seinen Blick und zuckte die Achseln.
Der Hauptmann schob den Kopf in den dunklen Flur und schritt durch die Dunkelheit. Kip öffnete die Augen weit, und noch weiter, bis zum infraroten Spektrum. Eisenfaust verströmte genug Hitze, um seinen ganzen Körper grau erscheinen zu lassen. Achselhöhlen und Lenden waren heller, und sein kahler, unbedeckter Kopf war am hellsten. Er ging den Flur hinab.
»Kip«, sagte Teia. Ihre Stimme klang gepresst. Er konnte ihre Miene nicht recht lesen: Infrarotes Licht war ungenau, und Kip fehlte die Übung damit, aber er konnte erkennen, dass sie nervös war. Gewiss hatte sie keine Angst vor der Dunkelheit. Nicht Teia.
Doch, natürlich hatte sie Angst davor. Fast alle Wandler hatten Angst vor der Dunkelheit – sogar viele Infrarote. Licht war das Geschenk Orholams; Dunkelheit war dem Bösen verwandt; Blindheit war Ohnmacht. Sie streckte die Hände aus, und Kip ergriff eine. Er führte sie den Flur entlang. Eisenfaust verlangsamte sein Tempo nicht.
Dann wurde Kip bewusst, dass er mit Teia Händchen hielt, und plötzlich fühlte er sich verlegen. Er verkrampfte sich irgendwie. Sie musste es bemerken.
»Ähm«, murmelte er. »Äh …« Er legte ihre Hand stattdessen auf seinen Arm.
Oh, wie ein Herr, der seine Dame zu einem Bankett führt. Viel besser. Du Idiot!
Kip räusperte sich, aber dann dachte er, dass alles, was er sagen würde, gleichermaßen dumm wäre. Er runzelte finster die Stirn und warf ihr einen Blick zu.
Sie feixte.
Obwohl es natürlich dunkel war, so dass sie nicht wusste, dass er sie feixen sehen konnte, war es ihm trotzdem sterbenspeinlich.
Sie sagte: »Es geht jetzt … es geht mir jetzt besser.« Ihre Zunge fuhr aus dem Mund, um ihre Lippen zu befeuchten, ein seltsamer, heißer Punkt in dem kühlen dunklen Flur. »Ich … habe manchmal Probleme damit, die Augen zu entspannen.«
Oh, stimmt ja. Sie konnte Infrarot sehen. Ihre Farbe war um so viel weiter unten im Spektrum wie Infrarot unter den anderen Farben. Sie hätte es auch ganz allein geschafft. Verlegen zog sie ihre Hand zurück.
Kip drückte die Schultern durch, senkte den Kopf und folgte Eisenfaust durch die Flure. Nach nur wenigen Biegungen führte Eisenfaust sie in einen Raum. Er betätigte einen Mechanismus, den Kip wahrscheinlich selbst dann nicht verstanden hätte, wenn er ihn in sichtbarem Licht hätte sehen können, und die Decke begann zu leuchten. Ein warmes, strahlendes, weiches Weiß.
Sie befanden sich in einem Trainingsraum, doch er war anders als jeder, den Kip bisher gesehen hatte.
Eisenfaust begann sich in einer Ecke zu schaffen zu machen, während sich Kip und Teia im Raum umblickten. Da gab es Schwebebalken zur Übung des Gleichgewichthaltens, Stangen für Klimmzüge, Boxpuppen, um die Schnelligkeit zu trainieren – sie waren mit Luxin überzogen und konnten in verschiedenen Bereichen farbig aufleuchten –, mit Sägespänen befüllte Boxsäcke aus Leder, hölzerne Parierstäbe, einen ganzen Stapel gepolsterter Brustharnische für Übungskämpfe, Zielscheiben
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