Die Blendende Klinge
leidenschaftslos, leer, aber endlich wieder bei vollem Bewusstsein zurückgelassen. Wieder ein wenig er selbst. Ein schwächeres Selbst.
Wie auch das blaue Gefängnis hatte das grüne die Form eines gequetschten Balls. Eine schmale Rutsche über ihm, an einer Wand ein Rinnsal Wasser und ein enger Abfluss für das Wasser und seine Körperausscheidungen.
Sein Gefängniswärter – sein Bruder – hatte offensichtlich noch nicht gemerkt, dass Dazen aus dem blauen Gefängnis ausgebrochen war. Diese Tatsache war sicherlich mit einem Vorteil verbunden, aber Dazen kam nicht dahinter, worin er bestehen könnte. Er wusste nur, dass es kein Brot mehr gegeben hatte, seit er in dieses Gefängnis gekommen war. Er hasste dieses harte, klumpige, derbe, grobe Brot – aber jetzt hätte er darum gebettelt, hätte an zerbrochenem Glas geleckt, um welches zu bekommen.
Vielleicht hatte sein Bruder es doch gemerkt. Vielleicht war es eine Strafe.
Dennoch: Er hatte zuvor schon nicht den Mumm gehabt, ihn verhungern zu lassen, und er hätte dazu sechzehn Jahre Zeit gehabt, daher glaubte der Gefangene nicht, dass sein Bruder ihn jetzt verhungern lassen würde. Zumindest nicht absichtlich.
Er fühlte sich schwach, und diese Schwäche bedeutete eine Versuchung. Er hatte kein Grün mehr gewandelt, seit sich das Fieber gelegt hatte, und Grün war Stärke, Wildheit.
Grün hatte ihn zweifellos gerettet, aber jetzt bedeutete Grün den Tod. Eben weil es Stärke war und Stärke hier süchtig machen musste. Wann immer er ein winziges bisschen wandelte, würde er mehr wandeln wollen. Und Grün war Unvernunft, Wildheit. Und wenn man in einem Käfig gefangen war, bedeutete Wildheit Wahnsinn und Selbstmord.
Ich bin dem ohnehin schon nahe genug.
Er begann wieder seine luftigen Gebäude aus Hypothesen zu errichten. Das war das Schöne daran, wenn man Jahre damit zugebracht hatte, Blau zu wandeln. Es ordnete die Gedanken, dämpfte die Leidenschaft.
Blau hasste noch immer die Unlogik, die es bedeutete, dass er nun an seinen Bruder als Gavin dachte und an sich selbst als Dazen, aber er hielt an dieser Entscheidung fest. Gavin war ein Verlierer. Gavin hatte den Krieg verloren, Gavin hatte sich einkerkern lassen. Dazen hatte Gavin die Identität gestohlen, also sollte er sie auch haben. »Gavin« war jetzt der tote Mann in der Wand, und er, der Gefangene, war jetzt Dazen. Er war ein neuer Mensch, und als Dazen würde er entfliehen und alles zurückgewinnen, was ihm zukam.
Das Ganze war ein Anflug schwarzen Wahnsinns, das wusste er. Aber vielleicht ist ein wenig Wahnsinn die einzige Möglichkeit, sechzehn Jahre lang allein in einem Kerker zu bleiben, ohne den Verstand zu verlieren.
Rückkehr ins Zentrum. Dazen. Dösen. Dumpf. Dutzend. Doppelt. Doller Dazen. Denken. Bedenken. Zweifel. Sicherheit. T. Das T: Verzweigungen. Kreuzungen. Richtungen. Es richten. Gerichtet. Tot. Dumpf. Dösend. Dazen.
Er stieß einen langen, langsamen Atemzug aus. Funkelte den toten Mann wütend an, der trotzig zurückfunkelte.
»Ich würde dir sagen, dass du zur Hölle fahren sollst, aber …«, wandte er sich an den toten Mann.
»Das habe ich alles schon mal gehört«, erwiderte der tote Mann. »Erinnerst du dich?«
Dazen brummelte etwas in seinen Bart. Er streckte die rechte Hand aus. Entweder weiß Gavin, dass ich im nächsten Gefängnis bin, oder er weiß es nicht.
Nein, noch mal einen Schritt zurück.
Entweder hat Gavin ein System installiert, das ihn darüber informiert, wenn ich von einem Gefängnis ins andere komme, oder er hat kein solches System installiert.
Wenn er sich die Mühe gemacht hat, mehr als ein Gefängnis zu bauen, dürfte er auch ein System installiert haben, das ihn wissen lässt, wenn ich vom einen Gefängnis ins andere gekommen bin.
Entweder hat sein Alarm funktioniert, oder er hat nicht funktioniert.
Ich wette, er hat funktioniert. Bisher ist nichts von dem schiefgegangen, was Gavin getan hat.
Wenn sein Alarm also funktioniert hat, hat er angezeigt, dass ich hierhergekommen bin.
Wenn er angezeigt hat, dass ich hierhergekommen bin, hat es Gavin entweder nicht gesehen, oder er hat es gesehen.
Aber ich habe bereits festgestellt, dass er nicht den Mumm hat, mich verhungern zu lassen.
Also hat er vielleicht nicht gesehen, dass ich hier bin.
Was eine weitere Frage offenlässt: Was macht Gavin, wenn er verreist ist? Entweder verreist er niemals, oder er hat ein System installiert, um mich zu ernähren, wenn er fort ist. Auf keinen Fall
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