Die Blendende Klinge
Armee ist mehr Ordnung vonnöten, als mir lieb ist, aber sobald wir niedergerissen haben, was die Chromeria errichtet hat, werden sich die Erfordernisse wandeln. Alle werden frei im Licht sein.«
Sie blieben vor einem Galgen am westlichen Lagerrand stehen. Vier Männer waren dort aufgehängt. Im schwachen Fackellicht konnte Liv ihre Gesichter nicht erkennen, aber sie sah die unnatürlich in die Länge gezogenen Hälse. Der Prinz hob die Hand, und ein Strahl gelben Lichts fiel auf die Toten. Jedem der Männer klebte geronnenes Blut am Kinn, und ihre Gesichter waren geschwollen. Die Vögel hatten sich bereits an den Leichen gütlich getan.
Liv wusste nicht viel über die Verwesung von Leichen, aber sie kannte sich gut genug aus, um zu sehen, dass diese Männer schon länger als einen Tag tot waren. Also konnten es keine Übeltäter aus ihrem Feldlager sein.
»Sie sind die begeisterten Fanatiker für unsere Sache. Jetzt sind sie Märtyrer. Es waren Männer, die ich ausgeschickt hatte, um die frohe Kunde nach Atash zu bringen, um den Weg für uns zu bereiten. Sie sind unbewaffnet gegangen. Sie sollten nur sprechen, überzeugen. Man hat ihnen die Zunge herausgerissen und sie gefoltert, bevor sie gehängt wurden. Die Atashi haben nicht einmal gewartet, bis sie die Grenze überquert hatten. Sie sind also in unser Land eingedrungen, um unbewaffnete Männer zu töten. Was sagt man dazu? Das ist eine Kriegserklärung. Atash hat den Wind gesät. Sie werden den Sturm ernten.«
»Ihr erzählt eine Menge Lügen, nicht wahr?«, fragte Liv. Dann schluckte sie. Das Ultraviolett ließ sie Strukturen durchschauen, brachte sie aber nicht notwendigerweise dazu, diese in ihrem Handeln zu beachten.
Die Wachen des Prinzen versteiften sich. Liv bemerkte, wie sie ihr hasserfüllte Blicke zuwarfen. Aber der Prinz sah sie neugierig an. »Ich vergesse, wer Ihr seid«, erwiderte er. Dann wurde seine Stimme kühl: »Aber es scheint, als vergesst Ihr es ebenfalls.«
Sie schluckte abermals.
»Ich leugne nicht, dass ich bereits zuvor die Absicht hatte, Atash zu befreien, aber die Atashi haben als Erste Blut vergossen. Das Blut Unschuldiger. Und lasst mich Euch das Folgende sagen, Aliviana Danavis: Es wird Zeit für Euch, die Illusionen Eurer Kindheit hinter Euch zu lassen. Eine im Dienst der Wahrheit erzählte Lüge ist Tugend. Wisst Ihr, warum ilytanische Piraten schon jahrhundertelang die Azurblaue See unsicher machen?«
»Weil sie dort sichere Häfen haben und die ilytanische Küste für alle, die sie nicht kennen, tückisch und gefährlich …«
»Nein. Weil die Menschen so schlecht zur Beurteilung ihrer eigenen langfristigen Interessen in der Lage sind. Die Satrapen hassen die Piraten. Die Händler hassen die Piraten. Die Familien, deren Väter von ihnen gewaltsam angeworben wurden, hassen sie. Die Eltern, deren Söhne versklavt wurden, um ihre Galeeren zu rudern, hassen sie. Aber obwohl die Piraten einige Male schwer dezimiert worden sind – und ich bin der Erste, um zuzugeben, dass das sogenannte Prisma hier einmal etwas Gutes getan hat –, kommen sie stets zurück. Und warum? Weil Satrapen es einfacher finden, ihnen Schutzgelder zu zahlen, als sie für immer auszumerzen. Es gibt gegenwärtig vier Piratenlords in Ilyta, und jeder einzelne von ihnen hat Verträge mit der aborneanischen Satrapa unterzeichnet, in denen er zusichert, keine Schiffe anzugreifen, die unter aborneanischer Flagge fahren. Wisst Ihr, was mit dem Geld geschieht, das die Satrapa diesen Piraten im Gegenzug zukommen lässt?«
Liv verzog das Gesicht. »Es macht die Piraten reicher.«
»Es finanziert neue Piraterie und befeuert die Träume eines jeden Piraten, selbst ein Piratenlord zu werden. Verschiedene Satrapen haben sich des Problems angenommen und sind daran verzweifelt. Von Zeit zu Zeit jagen sie auch mal einem Piratenlord, der einen Bündnisvertrag gebrochen hat, und manchmal sind sie sogar erfolgreich und knüpfen eine Bootsladung Männer auf. Aber der Erfolg ist nie von Dauer. Niemand ist willens, sein Geld oder seine Männer aufs Spiel zu setzen, um die anderen zu unterstützen, so dass, wenn die Schiffe des einen gekapert und versenkt werden, keiner sich bereit erklärt, ihm zu helfen. Also, denkt Ihr nicht, dass die Sieben Satrapen besser dran wären, wenn sie ausnahmsweise einmal zusammenarbeiteten und sich einfach gemeinsam um das Problem kümmern würden? Und dass ihnen das nicht nur jetzt im Moment helfen würde, sondern über die nächsten
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