Die Blendende Klinge
hundert Jahre hinweg?«
»Wenn man der Piraterie damit wirklich ein Ende setzen kann … Glaubt Ihr tatsächlich, erreichen zu können, woran Satrapen und Prismen gescheitert sind?«
»Unbedingt. Es ist eine reine Frage des Willens, und davon habe ich einen unbegrenzten Vorrat.«
Seine Kühnheit war atemberaubend.
»Das ist eine Kleinigkeit, Liv«, fuhr er fort. »Mit der Sklaverei ist es schon etwas anderes. Die Natur macht keine Sklaven, noch sollten Menschen es tun. Ihr seid Tyreanerin, und in Eurem Land hat sich dieser Schandfleck nicht so sehr ausgebreitet wie in den anderen Satrapien, aber die Sklaverei ist ein Fluch. Ich werde ihr ein Ende setzen. Das Gleiche gilt für die Chromeria. Sie versammelt die Besten einer Nation – ihre Wandler – und bringt sie weg. Indoktriniert sie. Nur den von ihr bevorzugten Städten und Plätzen gibt sie sie überhaupt je wieder zurück, und dabei macht sie die jungen Wandler auch noch glauben, sie täten das alles zu ihrem eigenen Wohl. Es ist ein Fluch wie die Sklaverei, der beide Seiten korrumpiert. Alle haben gesagt, diese Einrichtungen seien zu groß und zu bedeutend, um sich zu ändern. Ich sage, dass sie zu groß sind, um sich nicht zu ändern. In Verfolgung dieses Ziels bediene ich mich der Lüge. Sage, dass es einfacher sein wird, als es tatsächlich der Fall ist. Das gebe ich zu. Ich lüge mit Bedacht und nur, um Menschen anzuspornen, zu ihrem eigenen Wohl und zum Wohl der Sieben Satrapien zu handeln.«
Liv glaubte ihm, aber der ultraviolette Teil von ihr zwang sie zu fragen: »Wer entscheidet, welche Ziele es wert sind, für sie zu lügen?«
Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ihr denkt wohl, ich tue das leichtfertig? Seht Euch an, was die Chromeria angerichtet hat. Euer Vater ist ein Wandler. Er ist im Moment mein Feind, aber ich kann ihn als einen großen Mann anerkennen. Eine große Seele. Wäre nicht so ziemlich alles besser, als ihn zu ermorden? Sind Eure Hände denn sauberer, weil Ihr jemand anderen bittet, das Morden für Euch zu übernehmen?«
Bei dem Gedanken daran wurde ihr übel. Ihr Vater war alt für einen Wandler. Er hatte während ihrer Jugend nur wenig gewandelt, aber jetzt, im Kampf, würde er fast jeden Tag wandeln müssen. Ihm blieben höchstens noch einige Jahre. »Kann man sie nicht … vielleicht kann man sie davon überzeugen, dass die Befreiung unnötig ist? Dass Wichte nicht böse sind? Dass …«
»Sie überzeugen? Liv. Die Befreiung ist für die Ordnung der Chromeria kein bloßes Beiwerk. Sie ist vielmehr deren zentrale Säule. Ohne die Befreiung bräuchte man die Chromeria gar nicht. Wenn das Wandeln nicht ach so gefährlich wäre, bräuchte man seine Tochter nicht in ein fernes Land zu schicken, um dort wandeln zu lernen. Dann bedürfte es auch nicht der Indoktrinierung und des Raubes des wertvollsten Gutes auf der ganzen Welt – der Wandler. Ohne Kontrolle über und Monopol auf die Wandler stürzt das ganze System der Chromeria in sich zusammen. Deshalb auch das hier.« Er zeigte auf die toten Männer.
Wind kam auf und blies Liv Verwesungsgestank in die Nase. Sie hustete und wandte sich ab.
»Ihr fragt Euch vielleicht, warum ich sie nicht abgeschnitten und ihnen eine anständige Beerdigung bereitet habe. Ich werde es tun. Nachdem all unsere Leute hier vorbeimarschiert sind und gesehen haben, gegen welche Tiere wir kämpfen. Denn ich weigere mich, die Sünden der Chromeria zu bemänteln. Und ich weigere mich, an ihnen teilzuhaben.« Er starrte die Leichen noch einen Moment lang mit traurigen Augen an – zumindest glaubte Liv, in seinen Augen Trauer zu lesen. Dann wandte er sich ihr zu. »Ihr habt Fragen.«
»Nicht hierzu. Nicht … jetzt«, sagte Liv, richtete ihren Blick auf die Leichen und heuchelte Abgebrühtheit.
»Ihr steht aufgrund Eurer Geistesfähigkeiten in meiner Gunst, Aliviana. Ihr braucht Euch nicht auf das hier vorliegende Lehrstück zu beschränken.«
Sie grübelte über seine Worte nach. Wie viel davon war wahr, wie viel war Schmeichelei? Aber gleichwohl wärmte es ihr das Herz. »Die Götter«, sagte sie. »Gibt es sie wirklich?«
Die Grimasse eines Lächelns. »Was meint Zymun?«
»Er sagt, dass es sie gibt.«
»Aber?«
»Aber er ist Zymun, und Ihr seid Ihr.«
Der Farbprinz lachte laut auf. »Perfekt ausgedrückt. Ihr solltet eine Orange sein.«
Sie glaubte zuerst, er ziehe sie wegen ihrer mangelnden Beredsamkeit auf, aber dann wurde ihr klar, dass er es ernst meinte. Was sie gesagt
Weitere Kostenlose Bücher