Die Blendende Klinge
half etwas nach. Die Umhänge waren sehr dünn, fast wie Seide, und nicht ganz wasserdicht, aber jedenfalls besser als nichts. Das Schächtelchen mit den Karten machte er gar nicht erst auf – nicht in diesem Regen.
Als Letztes nahm er das Messer. Er hatte es nicht in die Scheide gesteckt, sondern einfach beides mitgenommen, als er Janus Borig und alles andere aus ihrem Haus getragen hatte. Aber jetzt schien ein Stück Scheide zu fehlen – sie war eindeutig kürzer als die Klinge. Nein, das konnte nicht sein.
Er steckte den Dolch in die Scheide, und als er ihn ganz hineingeschoben hatte, leuchtete ein Blitz auf, der das gesamte Gässchen erleuchtete und ihn für einen Moment blendete. Blinzelnd starrte er auf das Messer in der Scheide. Die Scheide passte perfekt. Also, er hätte schwören können, dass das Messer nun länger und breiter war als zuvor …
»Feuer! Feuer!«
Jemand kam an Kips Gasse vorbeigerannt, und schlagartig wurde ihm bewusst, dass er hier mit einem Messer in der Hand über dem Körper einer alten Frau stand, die erdolcht worden war – an einem Ort, an dem es gleich von Menschen wimmeln würde.
Und so war es auch. Kip nahm die Beine in die Hand und sah Dutzende, Hunderte von Menschen auf die Straßen hinausstürzen. »Der Blitz hat eingeschlagen! Feuer!«, schrien die Leute und pochten an die Türen ihrer Nachbarn.
In einer Stadt war Feuer ein Problem, das alle anging, sogar während eines Gewitters. Zwar half jetzt der Regen, das Feuer zu löschen, aber dennoch stürzte praktisch jeder nach draußen, um bei der Bekämpfung des Feuers seinen Beitrag zu leisten.
Kip ließ das Stadtviertel, in dem Janus Borig gewohnt hatte, hinter sich, bahnte sich einen Weg zurück zur großen Brücke, dem Lilienstiel, aber er ging nicht hinüber. Er hatte Janus Borig aufsuchen wollen, um sie zu fragen, wo er ein großes Geheimnis verstecken könne. Jetzt hatte er vier Geheimnisse.
Was zum Teufel sollte er mit vier Geheimnissen anfangen?
Die wichtigere Frage war, was würde er mit vier Geheimnissen in Zukunft wohl alles anfangen können?
Kip blieb eine Weile im Regen stehen, vermutlich reicher, als es sich Satrapen und Könige erträumen konnten, und hatte nicht einmal ein trockenes Plätzchen, auf das er seinen Kopf betten konnte.
Eisenfaust. Wenn Kip es bis zu ihm schaffte.
Kip ging über die Brücke, steckte sich den Dolch in den Gürtel und bedeckte ihn.
Vor dem Turm des Prismas sah er lediglich zwei Wachen, die in ihren Schilderhäuschen vor dem Regen Schutz gesucht hatten. Sie schienen nicht an ihm interessiert, auch wenn Kips Fantasie in Verfolgungsangst schwelgte. Er erreichte ohne Zwischenfälle den Aufzug.
Kip war zu lange ein Kind gewesen. Er war zur Chromeria gekommen, und sobald Andross Guile von seiner Existenz gehört hatte, hatte eine Meuchelmörderin versucht, Kip vom Turm zu stürzen. Als er die schwarzen Karten spielte, musste Andross Guile erraten haben, dass Janus Borig ihm geholfen hatte.
Nachdem Kip einige Zeit mit dem alten Mann verbracht hatte, war er versucht gewesen, den Luxlord zu vermenschlichen, zu glauben, dass der Alte auch etwas für ihn empfinden könnte. Dem war nicht so. Es gab wahre Ungeheuer auf der Welt, und Andross Guile war eines davon.
Kip stieg einige Stockwerke unterhalb der Turmspitze aus dem Aufzug. Hier hatten die Schwarzgardisten ihre Quartiere.
Ein dürrer Ilytaner mit einer Brandnarbe über einer Wange saß auf seinem Bett und las. Einige spielten ein Stück weiter hinten im Gemeinschaftsbereich Würfel, andere hatten sich in bequeme Sessel gefläzt und unterhielten sich über eine angebliche Mordserie in Abornea. »Dieser Bereich ist nur für Schwarzgardisten, mein Junge«, machte der Ilytaner klar.
»Ich muss Eisenfaust sprechen«, sagte Kip. »Ich bin Kip, Gavins Bastard. Es ist ein Notfall. Ich bin möglicherweise in Gefahr. Und es ist geheim.«
Man wurde nicht zum Schwarzgardisten, weil man entscheidungsschwach war. Der Mann sprang auf. »Niemand wird dir hier etwas antun. Ich bringe dich zum Quartier des Hauptmanns. Er macht gerade draußen seine Runde – er arbeitet immer länger als wir alle –, aber er ist für gewöhnlich eine Stunde nach Mitternacht wieder zurück.«
Eine Stunde nach Mitternacht? Natürlich. Kip hatte nicht bedacht, dass seine eigenen mitternächtlichen Trainingseinheiten mit Eisenfaust ein ganz normaler Teil von Eisenfausts Arbeitstag waren – er arbeitete von der Morgendämmerung bis eine Stunde nach
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