Die Blendende Klinge
weggenommen.
»Ich habe dich freigelassen. Du solltest glücklich sein.« Gavin schaute weg. Natürlich streichelte es sein Ego, dass seine Sklavin über ihre Freiheit nicht gerade erfreut schien, aber das war vielleicht auch nur, weil sie ihre Freude um seinetwillen zu verbergen wusste. Falls sie ihm das alles also nur vorspielte, wollte er diese Lüge nicht durchschauen. Daher blickte er weg.
»Es ist meine Schuld, nicht wahr, Herr?«, fragte sie. »Ich habe etwas falsch gemacht, oder? Ich habe irgendwie den Alarm übersehen.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es ist nicht deine Schuld. Mein Alarm hat versagt. Es war mein Werk. Es ist alles zu lange Zeit gutgegangen. Jetzt ist etwas passiert. Aber es liegt nicht an dir.«
»Ich hätte für Euch hier sein sollen. Dieses Mädchen, Ana … Ich hätte nie weggehen dürfen. Es tut mir so leid, Herr.« Sicher, wenn Marissia in seinem Bett gewesen wäre, als Gavin sie hatte haben wollen, hätten sich die Dinge ganz anders gestaltet, da hatte sie recht. Aber er war selbst Herr seines Schicksals. Niemand hatte ihn gezwungen, dieses Mädchen von seinem Balkon zu werfen.
Was hatte er sich dabei eigentlich gedacht? Nur, dass er sie aus seinem Zimmer heraushaben wollte? Dass er sie nur erschrecken wollte? Oder war seine Wut die ganze Zeit doch mörderisch gewesen?
Absicht oder nicht, vielleicht spielte es keine Rolle. Sie war tot. Es war alles vorbei.
»Es ist nicht deine Schuld, Marissia. Es ist meine Schuld. Du warst eine gute Dienerin, eine gute Gesellschafterin, eine gute Freundin. Ich möchte, dass du jetzt gehst, damit du nicht mit in den Strudel meines Untergangs gerissen wirst.«
Ihre Augenbrauen zogen sich entsetzt zusammen. »Herr, Ihr seid ein guter Mann. Bitte lasst mich nicht …«
Er schnaubte. »Ein guter Mann hätte dich schon vor langer Zeit freigelassen. Ich hatte Angst davor, wie du deine Freiheit wohl gebrauchen würdest, und so habe ich sie dir vorenthalten. Ich bin ein gemeiner Mensch mit einem schlechten Charakter. Der Meister, der die Wahl, die seine Leute treffen könnten, so sehr fürchtet, dass er ihnen jede Wahl nimmt, ist es nicht wert, dass man ihm dient. Du hast mir ungeachtet meiner Unzulänglichkeiten gut gedient. Danke, Marissia. Bring bitte diese beiden Umhänge in meinen Geheimraum hinunter. Und dann geh. Ich komme vielleicht nicht allein nach oben. Vielleicht komme ich gar nicht, und stattdessen kommt jemand anders. Du solltest nicht hier sein, wenn das passiert.«
Sie hob die Hände in die Höhe, ausnahmsweise einmal völlig hilflos. »Herr«, sagte sie traurig.
Er öffnete den Schrank und wandelte das Brett für seine Füße – diesmal aus gelbem Luxin, da er kein Blau mehr wandeln konnte.
»Sag Kip, dass es mir leidtut. Sag Karris … nein, ich nehme an, das kannst du nicht. Leb wohl, Marissia.« Er ging in den Schrank und schloss die Tür hinter sich.
Er hörte sie weinen, sobald die Tür zugefallen war, auch wenn sie versuchte, es zurückzuhalten.
Gavin schob den Boden auf, fand das Seil und befestigte das Brett daran. In Sekundenschnelle schoss er in der Finsternis nach unten.
Als er den Boden des Schachts erreicht hatte, tastete er im Dunkeln um sich, bis er die Luxin-Fackeln gefunden hatte, und zog eine aus der Wand. Er hatte sie zuvor nicht verwenden können, da er nicht gewollt hatte, dass gelbes Licht in eine der Zellen seines Bruders fiel. Jetzt, wo Dazen in der gelben Zelle war, spielte es keine Rolle mehr.
Er fand das Steuerelement und zog die Hebel, um die gelbe Zelle heraufzuholen. Es würde ungefähr fünf Minuten dauern, bis die Zelle hochgehoben und in die richtige Position gedreht war. Das hatte er deshalb so eingerichtet, weil sein Bruder denken sollte, dass die Stelle, wo das Fenster saß, eine Schwachstelle seiner Konstruktion sei, während er sie in Wirklichkeit härter als alle anderen gemacht hatte.
Während er wartete, hatte er Zeit, an den gewaltigen Kreativitätsschub zurückzudenken, den er beim Bau dieses Gefängnisses erlebt hatte. Er hatte die erste Zelle, die blaue, im Laufe eines Monats erbaut und dann die meiste Zeit eines ganzen Jahres damit zugebracht, all die anderen Zellen fertigzustellen. Er fragte sich, wie viel anders die Welt jetzt wäre, wenn er seinen Bruder einfach umgebracht und all seine Aufmerksamkeit sogleich darauf verwandt hätte, das Spektrum zu bekämpfen und den Ungerechtigkeiten ein Ende zu setzen, die er dessen Vertreter überall begehen sah. Welche
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