Die Blendende Klinge
Zymun. »Und was meinst du überhaupt damit? Was ich dann tun will? Du bist nicht besonders schlau, oder?«
Offensichtlich nicht schlau genug, um dir von Anfang an aus dem Weg zu gehen. Sie erstarrte innerlich. Sein Charme hatte ihn in letzter Zeit immer häufiger verlassen, und darunter trat etwas Echsenhaftes zutage. Etwas stimmte nicht mit ihm. So dürftig und substanzlos, eine grundsätzliche Oberflächlichkeit des Wesens. Warum hatte sie das nicht gleich bemerkt? Wenn er sie jetzt berührte, wurde ihr ganz kalt. Ihr Körper hatte es gewusst. Sie hatte sich selbst vorgemacht, dass sie sich vorsichtig aus seinen Schlingen ziehen würde, aber das stimmte nicht: Sie hatte Angst. Angst, eine Frau allein in einem Feldlager voller Bewaffneter zu sein. Solche Angst ziemte sich nicht für einen Wandler. Solche Angst ziemte sich nicht für eine Frau. Wollte er sie behandeln, als sei sie ein Nichts? Hass ballte sich in ihrer Brust zusammen.
Sie musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, aber dann wandte sie sich ihm zu und blickte ihn aus einer Maske kalter Verachtung an: »Zymun, Zymun, Zymun. Kaiser? Ich bitte dich. Es ist keine Spur von Größe in dir.«
Sie schlüpfte gewandt aus dem Zelt. Ihr Körper zitterte. Was war mit deinem großen Plan, ihn deiner überdrüssig werden zu lassen? Dich aus seinen Klauen zu befreien und ihm zugleich das Gefühl zu geben, es sei seine Idee gewesen?
Das kannst du jetzt alles vergessen. Mist .
Zu wissen, was zu tun das Schlauste war, und auch die Person zu sein, es in die Tat umzusetzen, waren zwei verschiedene Dinge. Zum Teufel mit ihm.
Liv begab sich direkt zum Zelt des Farbprinzen. Er war nicht da. Sie fand ihn stattdessen am Rand des Lagers, wo er neue Wandler in Empfang nahm, die Ru oder andere atashische Städte verlassen hatten, um zu ihnen zu stoßen. Mindestens die Hälfte von ihnen stand in ihren letzten ein oder zwei Lebensjahren. Feiglinge, dachte Liv.
Aber Armeen setzten sich sowohl aus denen zusammen, die sich ihnen aus schlechten Gründen anschlossen, als auch aus denen, die es aus guten Gründen taten, und der Prinz verschmähte niemanden, der ihn unterstützte. Liv schritt auf ihn zu, verneigte sich tief und sagte: »Eure Herrlichkeit, könnte ich Euch auf ein Wort unter vier Augen sprechen?«
Der Prinz musterte sie abschätzend, dann entschuldigte er sich.
»Zymun plant, Euch zu hintergehen«, sagte sie ohne jedes Vorgeplänkel.
»Danke. Könntet Ihr diese Gruppe von Rekruten für mich unterrichten?«
»Was?«, fragte sie. »›Danke?‹ Das ist alles?«
Er blickte sie durchdringend an.
»Ich bitte um Entschuldigung, mein Prinz. Ich wollte meine Stimme nicht erheben.«
Er schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln. »Wann habt Ihr es herausgefunden?«
»Ich hatte bereits gemutmaßt, dass er … eine allzu hohe Meinung von sich selbst hat, aber bis heute Morgen war ihm noch kein hochverräterisches Wort über die Lippen gekommen.«
»Und dann seid Ihr direkt zu mir gekommen.«
»Ja, hoher Herr.«
Ein Gefolgsmann trat aus den Reihen hervor und näherte sich dem Prinzen. Der bedeutete ihm mit erhobener Hand zu warten.
»Ihr habt es gewusst«, sagte Liv.
»Ja.«
»Dann … habt Ihr mich als Spionin auf ihn angesetzt?«
»Sagt Ihr es mir«, erwiderte er. Erneut schickte sich jemand an, auf sie zuzutreten, und auch dieser Dienerin gab der Prinz ein Zeichen, jetzt nicht zu stören. Eine Armee zu befehligen bedeutete, von frühmorgens bis spätabends und darüber hinaus Entscheidungen zu treffen.
»Ihr habt nicht ihn auf die Probe gestellt, sondern mich«, erkannte Liv.
»Tatsächlich?«
»Ihr wusstet, dass er Euch hintergehen würde; aber Ihr wusstet nicht, ob ich es auch tun würde. Also habe ich die Probe bestanden. War Zymun in die Sache eingeweiht?« Wenn das der Fall gewesen war, würde das bedeuten, dass er noch immer in der Gunst des Farbprinzen stand, und die Art und Weise, wie Liv ihn soeben verlassen hatte, war dann nicht nur eine Sache ihrer Loyalität zum Prinzen. Möglicherweise hatte sie sich gerade einen mächtigen Feind geschaffen, ohne zugleich einen noch mächtigeren Freund zu finden.
»Wisst Ihr, was mit einem Ei passiert, wenn man es warm hält?«, fragte der Prinz.
»Etwas schlüpft?«, erwiderte Liv.
»Und wenn man es heiß macht?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich …«
»Es kocht.« Er lächelte nachsichtig, voller Großmut. »Ein jedes Ding hat seine Zeit. Wenn man manche Dinge überhastet, wird nichts aus
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