Die Blendende Klinge
kleinen Abakus in der Hand, an dem sie ständig herumnestelte. Zumindest dachte Liv, sie spiele einfach nur nervös mit dem Abakus herum. Aber nach einer Weile, als die Frau eine Aufstellung über ein rundes Dutzend verschiedener Möglichkeiten vorlegte, wie der Prinz seine Schulden aufteilen könnte, um seine eigenen Einnahmen zu optimieren, begriff Liv, dass die kleine Frau tatsächlich ständig rechnete.
Schließlich erkundigte sich der Prinz bei einem der Ratgeber, welche anderen Angelegenheiten noch warteten, und kam zu dem Schluss, dass alles Übrige auf morgen verschoben werden konnte. Er entließ seine Berater und winkte einzig Liv heran.
Gemeinsam gingen sie nach oben und traten auf den großen Balkon vor seinem Zimmer hinaus.
»Also, Aliviana Danavis, was habt Ihr heute gesehen?«
»Hoher Herr?« Sie zuckte die Achseln. »Ich habe gesehen, dass Herrschen viel komplizierter ist, als ich es mir je vorgestellt hätte.«
»Ich habe heute für Garriston – und für ganz Tyrea – mehr getan, als die Chromeria in sechzehn Jahren getan hat. Nicht dass mir alle dafür danken werden. Zwangsarbeit, um die Stadt aufzuräumen, wird nicht beliebt sein, aber es ist besser, als Waren verfaulen oder sie von Plünderern und Banden stehlen zu lassen.«
»Ja, hoher Herr.«
Er zog einen dünnen Zigarro aus Tabak, eingerollt in ein Deckblatt aus Rattenkraut, aus einer Tasche seines Umhangs. Dann zündete er ihn an, indem er ihn mit einem Finger voll Infrarot berührte, und nahm einen tiefen Zug.
Sie sah ihn neugierig an.
»Meine Verwandlung von Fleisch in Luxin ist nicht perfekt«, sagte er. »Ich habe es besser gemacht, als es irgendjemandem in den letzten Jahrhunderten gelungen ist, aber ich habe trotzdem Fehler begangen. Schmerzhafte Fehler. Natürlich hat es die Dinge nicht leichter gemacht, dass ich mit einer verkohlten Hülle anfangen musste.«
»Was ist mit Euch geschehen?«, fragte Liv.
»Ein andermal vielleicht. Ich will, dass Ihr an die Zukunft denkt, Aliviana. Ich will, dass Ihr träumt.« Er blickte über die Bucht. Sie war übersät mit Müll, die Kais und Piers mit Abfall verschmutzt. Er seufzte. »Dies ist die Stadt, die wir eingenommen haben. Die Perle der Wüste, die zu zerstören die Chromeria ihr Bestes getan hat.«
»Mein Vater hat versucht, die Stadt zu beschützen«, wandte Liv ein.
»Euer Vater ist ein großer Mann, und ich bezweifle auch nicht, dass er genau das zu tun geglaubt hat. Aber Euer Vater hat den Lügen der Chromeria Glauben geschenkt.«
»Ich denke, er wurde erpresst«, sagte Liv, die sich leer und hohl fühlte. Das Prisma, das sie so sehr bewundert hatte, hatte Liv benutzt, um ihren Vater durch Erpressung zu zwingen, ihm zu helfen. Sie wusste nicht einmal, wie er das gemacht hatte, aber sie konnte sich nichts anderes vorstellen, was ihren Vater dazu hätte bewegen können, für seinen Todfeind zu kämpfen.
»Ich hoffe, dass das stimmt.«
»Wie bitte?«, fragte Liv.
»Denn wenn es wahr ist, ist es noch nicht zu spät für ihn, und ich hätte Euren Vater liebend gern auf unserer Seite. Er ist ein gefährlicher Mann. Ein guter Mann. Hochintelligent. Wir werden es herausfinden. Aber ich fürchte, Liv, dass er so lange ihren Lügen zugehört hat, dass seine ganze Denkweise zersetzt und verdorben wurde. Er mag erkennen, dass das eine oder andere Unkraut auf der Oberfläche wächst, und sich dagegen wehren, aber wo der Erdgrund selbst verunreinigt ist – wie soll er da die Wahrheit sehen? Das ist der Grund, warum die Jugend unsere Hoffnung ist.«
Die Sonne ging unter, und von der Azurblauen See wehte eine frische Brise landeinwärts. Der Farbprinz zog noch einmal tief an seinem Zigarro und schien das sich immer stärker rötende Licht zu genießen.
»Liv, ich will, dass Ihr Euch eine Welt ohne die Chromeria vorstellt. Eine Welt, in der eine Frau jedem Gott huldigen kann, dem sie huldigen will. Eine Welt, in der ein Wandler zu sein kein Todesurteil mit zehnjähriger Wartezeit ist. Eine Welt, in der nicht der Zufall der Geburt Narren auf den Thron setzt, sondern wo allein Fähigkeiten und Tatkraft eines Menschen über seinen Erfolg entscheiden. Wo es keine Herrscher gibt als jene, deren Natur sie dazu macht. Keine Sklaven – überhaupt keine. Die Sklaverei ist der Fluch der Chromeria. In unserer neuen Welt wird eine Frau nicht verachtet werden, nur weil sie aus Tyrea stammt – nein, und genauso wenig wird es ein Ehrenzeichen sein. Ich kämpfe nicht um eine Vorherrschaft
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