Die Blendende Klinge
nicht, Gavin«, erwiderte sie. Ihre Stimme war rau, als könne sie sich nur mit Mühe beherrschen.
Was nicht? Sollte er sie nicht berühren? Nichts sagen? Nicht gehen?
»Heute war Tavos’ Geburtstag«, sagte sie, angestrengt bemüht, deutlich zu sprechen. »Ich hätte es fast vergessen.« Tavos, ihr Bruder. Er war bei dem Brand gestorben. Er war ein schrecklicher Mensch gewesen, gewalttätig, seelisch labil, einer der Kerle, deren Spott in jener Nacht in Dazen die Überzeugung geweckt hatte, getötet zu werden, wenn er sich nicht wehrte. Aber Karris hatte das nicht erlebt, hatte diese Seite ihres Bruders vielleicht niemals kennengelernt. Und selbst dann wäre er noch immer ihr Bruder gewesen. »Ich vermisse sie alle so sehr. Koios …« Es klang, als wolle sie noch mehr sagen, könne es aber nicht.
Koios war ihr Lieblingsbruder gewesen. Er war der einzige Bruder, den getötet zu haben Gavin bedauerte. Der einzige halbwegs anständige Mensch unter ihnen.
Und dann weinte sie erneut. Sie drehte sich zu ihm um, und er hielt sie im Arm. Er sagte nichts, immer noch nicht sicher, ob er das Ganze nicht vielleicht nur träumte, und wusste bloß, dass alles, was er jetzt sagte, nur das Falsche sein konnte.
Auch wenn er noch so ratlos sein mochte und ihm noch so viele Dinge durch den Kopf gingen – manchmal besteht die höchste Bestimmung eines Mannes einfach darin, in stiller Umarmung dazustehen.
19
In seinem Traum war Kip ein Grünwicht, jagte schreiende Kinder und fiel mordend und sengend über sie her. Er erwachte in einem Wechselbad aus wütender Rage, Rührseligkeit und Blutdurst; das Toben der nächtlichen Trugbilder steckte ihm noch tief in den Knochen.
Als er mitten in der Nacht aufstand, um pinkeln zu gehen, begleitete ihn ein Schwarzgardist. Kip war dem beharrlich schweigenden Mann noch nie begegnet. Er ging einfach nur neben Kip her und hielt ihn vor dem Betreten der Toilette für einen Moment zurück, um sich erst davon zu überzeugen, dass drinnen kein Meuchelmörder lauerte. Lächerlich.
Es war eine Erleichterung, am Morgen das Bett zu verlassen, obwohl Kip sich nicht im Mindesten ausgeruht fühlte. Mehrere ältere Schüler aus dem zweiten Jahr kamen und trieben die neuen in den Speisesaal.
Kip war ausgehungert, aber er bekam nicht mehr Essen als irgendjemand sonst in der Schlange. Als er das Ende der Schlange erreichte, stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Im Raum waren Tische in langen Reihen aufgestellt, an denen sich die Schüler mit ihren Freunden zusammendrängten.
Mit Freunden, die ich nicht habe.
Tatsächlich hatte Kip eher das Gegenteil. Er erblickte Elio, dessen Arm, in dicke Verbände gehüllt, in einer Schlinge hing. Der Junge unterhielt sich gerade mit seinen Freunden, als er Kip bemerkte. Er verstummte sofort und wurde bleich.
Ich sollte dort hinübergehen. Ich sollte mich zu ihnen setzen und ihnen mit Geplauder den Wind aus den Segeln nehmen. Ich sollte so tun, als sei nichts geschehen, aber ich sollte auf mein Recht pochen, bei den härtesten Kerlen meiner Klasse zu sitzen.
Doch er brachte es nicht fertig.
Jetzt erst merkte er, dass ihm an diesem Morgen kein Schwarzgardist folgte. Er ließ seinen Blick über die Reihen von Schülern, Tischen, Frühstücksschüsseln, Dienern und Sklaven schweifen. Keine Schwarzgardisten zu sehen. Aus irgendeinem Grund raubte ihm das sein bisschen schwankendes Selbstvertrauen, riss es ihm von einem Moment auf den anderen förmlich unter den Füßen weg. Sie hatten gesehen, was er getan hatte. Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass er ihren Schutz nicht verdiente.
Dann sah Kip einige bekannte Gesichter: den Jungen mit der seltsamen Brille, der gestern im Unterricht hinter ihm gesessen hatte, und einige aus dem Schwarzgardisten-Übungskurs. Sie waren die Ausgestoßenen – Kip sah es sofort. Dort saßen die Ungeschickten, die allzu Intelligenten, die Hässlichen zusammen mit jenen Möchtegern-Schwarzgardisten, denen ein frühes Ausscheiden sicher war. An ihrem Tisch und um sie herum gab es natürlich jede Menge Platz – als seien sie ansteckend. Kip ging zu ihnen hinüber.
»Kannst du lesen?«, fragte der Junge von gestern, als Kip sich ihm näherte. Im Moment waren ein blaues sowie ein gelbes Glas seiner Spezialbrille heruntergeklappt.
Kip zögerte. Wollten sie etwa nicht, dass er sich zu ihnen gesellte? »Ähm, ja?«
»Wenn nicht, musst du zum Leseunterricht gehen. Wenn du es schon kannst, musst du auf dem Plan nachsehen, welche
Weitere Kostenlose Bücher