Die Blendende Klinge
Markt von einem Bogentürmchen überwölbt, das einen der Tausend Sterne der Stadt trug. Diese waren im Wesentlichen dazu gedacht, Fähigkeiten und Kraft der Wandler zu verbessern, doch wenn die Wandler sie nicht benötigten, konnten die Bewohner jeden Stadtteils die großen, erhöhten Spiegel verwenden, wofür immer sie wollten.
Dieser Markt hatte seine Sterne an die meistbietenden Händler verpachtet. Und so lenkten einige von ihnen die Strahlen der Sonne auf bestimmte Geschäftsstände. Andere, mit farbigen Filtern versehen, waren auf Luxin-Gaukler und -Jongleure gerichtet, die über den Markt flanierten, Kunststücke vorführten und Werbung für den einen oder anderen Laden machten. Adrasteia bahnte sich ihren Weg zum Sockel eines dieser Sterne, schloss die dort befindliche winzige Tür mit einem Schlüssel auf, sperrte hinter sich wieder zu und kroch den unangenehm schmalen Schacht hinauf. Sie hatte eine Übereinkunft mit den sogenannten Turmaffen, den Sklaven, die diesen Bogenturm unterhielten. Solange sie ihnen nicht in die Quere kam oder irgendwelche Schäden verursachte, erlaubten sie ihr, eines der Lüftungsfenster auf halber Höhe als Ausguck zu benutzen.
Während sie wartete, öffnete sie ihre Tasche. Für gewöhnlich hasste sie ihr glattes, langweiliges Haar, aber sie trug es aus gutem Grund relativ kurz. Mit ein paar Klemmen konnte sie mühelos eine Perücke an ihrem Kopf befestigen: diesmal eine atashische Perücke mit langem gewelltem Haar. Sie band ein rotes Tuch darum und fischte dann ungefähr zwanzig Armbänder aus ihrer Tasche. Sie waren protzig und grell – alles, um die Aufmerksamkeit von ihrem Gesicht abzulenken. Sie strich sich Rouge auf Wangen und Lippen und legte ihre übrigen Tücher zusammen. Sie schob ihren Schal in die Tasche, lockerte einige Bänder an ihrem Kleid und zog es nach unten – wenn sie den Bogenturm verließ, würde sie hohe Schuhe tragen, die sie größer erschienen ließen, und dann musste der Saum weit genug herabhängen, um diese Schuhe zu verbergen. Sie zog ein Mieder an und zurrte es locker über ihren Rippen zusammen, dann stopfte sie die zusammengefalteten Taschentücher in ihr Mieder, um den Anschein zu erwecken, als seien ihre Brüste in Wirklichkeit größer als nur winzige Mückenstiche.
Fast alles, was sie an ihrem Körper so störte, machte sie gut für diese Arbeit geeignet, das wusste sie. Es war zweifellos mit ein Grund dafür, warum sie ausgewählt worden war. Nicht zu klein, nicht zu groß, mager – das war mit Kleidern leichter zu kaschieren als Übergewicht –, recht angenehme Gesichtszüge, aber nicht so hübsch, um unter anderen Mädchen aufzufallen. Sosehr es sie auch geärgert hatte, als Kip es laut aussprach – sie konnte sich sogar als Junge verkleiden und hatte es auch schon getan.
Doch als sie heute fertig war, ging sie davon aus, wohl doch wie eine Frau auszusehen. Atashische Hausfrau aus der Unterklasse, Mitte zwanzig, relativ groß, schlechter Geschmack, ein Zahn geschwärzt mit einer Mischung aus Asche und Talg. Die abscheulich schmeckte.
Ihre Verkleidung war nicht makellos, aber Adrasteia hatte es auch nicht auf Vollkommenheit abgesehen. Das Beste an dieser Maskerade war, dass sie, falls sie verfolgt wurde, alles binnen weniger Sekunden ausziehen konnte.
Als sie mit dem Umkleiden fertig war, begann sie zu warten. Inmitten des bunten Treibens von Großjasper ganz allein einen einzelnen Edelmann aufzuspüren und ihm am selben Tag auch noch einen ganz bestimmten Gegenstand zu stehlen wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Aber von Adrasteia wurde auch gar nicht verlangt, ihr Opfer zu finden. Der Mann würde zu ihr kommen, und er würde entsprechend gekennzeichnet sein.
Adrasteia wartete eine Stunde und weitete dabei jede Minute einmal die Augen. Ihre Sicht war so, wie sie es Kip erzählt hatte: durchschnittlich, unglaublich und fürchterlich zugleich, ohne dass sie irgendeine Logik dahinter hätte ausmachen können. Ultraviolett sah sie überhaupt nicht, ihre Wahrnehmung von Violett, Lila und Blau war lediglich durchschnittlich, von Grün und Gelb vermutlich ebenfalls, und Rot konnte sie nicht von Grün unterscheiden. Aber dann, unterhalb des für Normalmenschen sowie viele Wandler sichtbaren Spektrums, schärfte sich ihre Sicht. Sie konnte kein Infrarot wandeln, aber sie konnte es besser sehen als die meisten Infrarotwandler. Teia brauchte nicht einmal bewusst die Augen zu weiten, um es zu sehen; es fiel ihr so leicht wie
Weitere Kostenlose Bücher