Die Blendende Klinge
viel besseres Essen als normalerweise, bemerkte er –, aber es waren nur wenige Schüler da. Jene, die zugegen waren, saßen bei Erwachsenen. Einige wenige der Erwachsenen mochten ältere Geschwister sein oder Eltern.
Es fühlte sich an, als hätte er einen Faustschlag mitten in die Brust erhalten. Kip stand mit seinem Tablett da und suchte nach einem Platz. Es spielte keine Rolle, wo er sich hinsetzte, heute würde er allein sein. Seine Mutter war tot. Sein Großvater hatte ihm die Anerkennung verweigert. Sein Vater war fort, wie er Kips ganzes Leben lang fort gewesen war.
Kip saß allein da. Aß allein. Er zwang sich, sich nicht zu beeilen, während ein Teil von ihm den Schmerz zwar nicht direkt genoss, aber dennoch darin schwelgte.
Dies sind die Hammerschläge, die einen Mann formen. Und er nahm die Schläge willig hin. So sollte es eben sein.
Er beendete seine Mahlzeit und begab sich in die Bibliothek. Die Bibliothekarin, eine überraschend attraktive Frau – ihren Augen nach zu urteilen vielleicht eine schwach ausgeprägte Gelbwandlerin –, sagte: »Ich fürchte, alle unsere privaten Begegnungsräume sind bereits von Gönnern belegt, junger Mann.«
»Ich brauche keinen Raum. Ich brauche Bücher. Über Spielstrategien für Neun Könige.«
»Ah.« Ihre Miene hellte sich auf. »Ich denke, da können wir dir helfen.«
Rea Siluz war die vierte Untersekretärin der Bibliothek. Übernahm normalerweise die Spätschicht. Bevor Kip die Bücher auch nur sehen durfte, musste er erst einen Vertrag unterzeichnen, in dem er versicherte, weder Feuer in die Bibliothek mitzubringen noch dort rotes Luxin zu wandeln. Als das erledigt war, wies sie Kip an, sich an einen Tisch zu setzen, der sich auf der dunklen Seite der Bibliothek befand – auch wenn es natürlich überall im Raum jede Menge künstliches Licht von gelben Laternen gab. Dann brachte sie ihm einen Bücherstapel.
»Spielst du oft?«, fragte Rea.
»Bisher habe ich es erst zweimal gespielt. Habe beide Male katastrophal verloren.«
Sie lachte leise. Ihr dunkles feingelocktes Haar war um ihren Kopf herum sorgfältig zu einem großen Kranz geflochten, was ihr schmales Gesicht und ihre vollen Lippen besser zur Geltung brachte. »Die meisten Leute verlieren ihre ersten zwanzig Spiele.«
Oh. »Das kommt für mich nicht in Frage«, erwiderte Kip. »Womit soll ich anfangen?«
»Du liest zuerst diese beiden, und dann gehst du das hier durch. Dieses hier enthält Zeichnungen aller Karten, du kannst es also zurate ziehen, wenn du etwas nicht verstehst. Je früher du sie auswendig kennst, desto besser wirst du spielen.«
Oh, Mann. Kip machte sich an die Arbeit.
Er las zwölf Stunden lang. Als er einmal von der Toilette zurückkam, bemerkte er, wie sich ein Mann über seinen Tisch beugte und die Titel der dort aufgestapelten Bücher notierte. Er sah Kip kommen und verschwand. Kip dachte kurz daran, ihm nachzugehen, aber dann wurde ihm klar, dass er gar nicht wusste, was er tun sollte, wenn er ihn erwischte.
Toll, also spionieren sie mir nach, um festzustellen, was ich lese. Kip wusste nicht, wer »sie« waren, doch er vermutete, dass es auch keine große Rolle spielte.
Als er spät aufstand, um noch ein Abendessen zu ergattern, ging er zu Reas Pult hinüber. »Kann ich nach dem Essen zurückkommen?«
»Du hast noch nicht gegessen?« Sie wirkte müde, weil sie heute zwei Schichten durchgearbeitet hatte.
»Nein, und ich sterbe vor Hunger.«
»Dann tut es mir leid, aber die Bibliothek schließt in einigen Minuten.«
Kip sah zu den übrigen Schülern hinüber, die mitnichten so wirkten, als wollten sie gleich ihre Sachen zusammenräumen, und machte eine ratlose Handbewegung.
»Das sind Schüler im dritten und vierten Jahr, Kip. Die höheren Jahrgänge sowie die Auszubildenden der Schwarzen Garde dürfen lernen, wann und wo sie wollen. Sie haben so viele andere Pflichten, dass einige von ihnen oft erst um Mitternacht hier eintreffen. Den Schülern im ersten Jahr schenkt man nicht so viel Vertrauen. Du darfst dich nur hier aufhalten, wenn auch Bibliothekare hier sind.«
Also las Kip noch einige Minuten länger. Als er schließlich aufbrach, um ins Bett zu gehen, fing ihn Grinwoody mit einem wölfischen Grinsen im Gesicht auf dem Flur ab.
Kip hatte noch nicht genug über das Spiel lernen können. Er hatte keine Chance zu gewinnen.
In Andross Guiles Räumlichkeiten war alles genau wie zuvor, und als Kip sich setzte, war über ihm eine ultraviolette Laterne und
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