Die blonde Witwe
zugestoßen, er sei tot, sie müsse sofort mit der Polizei wegfahren. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich dachte, es sei ein Unfall, und man hätte ihn vielleicht in ein Krankenhaus gebracht. Aber gegen Mittag kam Reni heim. Sie war ganz verstört und sagte mir, daß Vater wahrscheinlich ermordet worden sei, im Zug, und daß es ein Raubmord sein müsse, denn er hätte viel Geld bei sich gehabt, und das sei verschwunden.«
»Erinnern Sie sich genau, daß Ihre Mutter damals schon das Geld erwähnte? Oder haben Sie davon erst später erfahren?«
Sie sah mich erstaunt an.
»Nein, das sagte sie gleich, denn es war doch ein Raubmord.«
»Haben Sie Ihren toten Vater noch gesehen?«
»Nein, ich wollte — ich wollte ihn sehen, aber Reni sagte, es sei — ich solle es lieber nicht, und außerdem war die Leiche ja beschlagnahmt. Dann kam die Beerdigung am Sonnabend, und Reni sagte plötzlich, es sei vielleicht zu aufregend für mich, ich könne einen Nervenzusammenbruch bekommen. Ich fand das merkwürdig. Ich wollte doch mit, und auf einmal gab es einen Streit zwischen uns. Ich weiß gar nicht mehr recht, warum eigentlich. Schließlich war sie ganz durcheinander. Sie schrie, Vater habe ein Verhältnis gehabt und diese Person hätte ihn ermordet, und es würde genügen, wenn sie allein sich dem Gespött der Leute auf dem Friedhof aussetzen würde. Ich weiß nicht mehr, was sie noch alles sagte, jedenfalls wollte sie mich nicht dabeihaben. Schließlich gab ich nach.«
Sie schwieg erschüttert. Ich streichelte zart ihren Handrücken, aber ich weiß nicht, ob sie es überhaupt bemerkte.
Ich blickte auf und winkte dem alten Gesicht hinter einer der Hecken zu.
»Sie können ruhig zuhören, Frau Gregorius, wir reden nur über Adalbert Stifter.« Zu Andrea sagte ich: »Holzinger hat Sie aber dann doch noch zum Friedhof gefahren?«
»Ja«, sagte sie. »Ich war nun selber ganz wirr und wollte hinfahren, aber unterwegs überlegte ich es mir wieder anders und kehrte um.«
»Allein?«
»Ja. Aber kaum war ich zu Hause, kam er und wollte mich nach München bringen, zum Zug nach Reichenhall. Er sagte, es sei Reni so lieber, und ich hatte das Gefühl, im Augenblick hätte ich ohnedies in diesem Haus nicht mehr viel verloren.«
»Er brachte Sie dann nach München?«
»Ja.«
Ich blickte sie lange an. Schließlich sah sie auf und ich sagte: »Wie alt sind Sie, Andrea?«
»Im Januar achtzehn geworden. Komme ich Ihnen albern vor?«
»Keineswegs.«
»Sie müssen wissen — ich sollte vielleicht trauriger oder verzweifelter sein. Aber ich habe es meinem Vater nie vergessen können, daß er Mutter mit einer — daß er sie eben betrogen hat.«
»Wissen Sie, Andrea, daß Sie Alleinerbin Ihres Vaters sind? Und daß Ihr Vater eine Lebensversicherung über eine halbe Million abgeschlossen hatte?«
Es schien sie nicht zu beeindrucken.
»So?« sagte sie nur. »Das habe ich nicht gewußt.« Dann sah sie mich wieder an, aufmerksam und prüfend. »Merkwürdig«, sagte sie. »Ich hätte damals auf dem Bahnhof nicht gedacht, daß wir uns noch einmal treffen. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Ich weiß noch nicht. Sie kennen doch das Gefühl, wenn man etwas sagen will, und bringt es nicht heraus, obwohl es einem auf der Zunge liegt. So geht es mir jetzt. Da ist etwas, ein Knoten, den Sie lösen könnten, aber ich weiß nicht, wo er ist.«
Ich schwieg eine Weile, dann fragte ich sie: »Können Sie mir jetzt vertrauen, Andrea? Es wäre die einzige Hilfe, die ich im Augenblick dringend brauche.«
Sie sah mich an. Ein feines Rot stieg von ihren Wangen zur Stirn.
»Ja, Jerry, ich vertraue Ihnen.«
Ich zog meine Zigaretten aus der Tasche, um Zeit zu gewinnen. Ich dachte darüber nach, ob ich ihr vom Tode ihrer Stiefmutter etwas sagen sollte oder nicht.
»Rauchen Sie?«
»Nein, danke.«
Wenn sie es hinterher erfuhr, würde sie das Gefühl haben, ich hätte ihr nicht die Wahrheit gesagt. Andererseits war es für mich hart, ihr auch das noch beizubringen.
»Andrea«, sagte ich endlich, während ich hastig rauchte, »ich habe mit Ihrer Stiefmutter gesprochen. Gestern nachmittag. Sie war wirklich bedrückt, sie war sogar verzweifelt. Sie wußte etwas, aber sie wagte leider nicht, mir die Wahrheit zu sagen. Sie hatte Angst vor etwas, das habe ich gespürt, und ich wollte auch ihr helfen, aber — aber es ist mir nicht mehr gelungen.«
Und dann schilderte ich den entsetzlichen Abend in Pöcking. Ich berichtete
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