Die Blüte des Eukalyptus
Hilfe beim Gesetz suchen zu wollen.
Doch jetzt, als sie zu Fuß über eine kopfsteingepflasterte Straße wanderte, die sich auf dem Weg nach Liverpool durch ein Dorf schlängelte, war sie überzeugt, sich überall auf der Welt damit durchschlagen zu können, den gaujo aus der Hand zu lesen – jedenfalls denen, die es sich leisten konnten, die Tarotkarten nach ihrer Zukunft zu befragen.
»Ich werde das Geld zusammenhaben, noch ehe der Mond wieder abnimmt«, nahm sie sich vor. Ihre Stimmung hob sich beim Anblick eines Schwalbenschwarms, der im Tiefflug über ihren Weg schoss – ein sicheres Zeichen, dass ihre Roma-Ahnen ihr Glück wünschten. Und obendrein ein Beweis dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war. Nicht nur nach Liverpool, sondern unterwegs zu Gem.
Um sich ihre wenigen letzten Münzen zu erhalten, ging sie entschlossen an einem Obstkarren vorbei und sammelte die von einem Baum herabgefallenen Früchte ein. Möglicherweise ein bisschen unreif, aber Hungerleider dürfen nicht wählerisch sein.
Die Dämmerung senkte sich wie ein weiches Kissen aus Licht herab. Keziah liebte diesen schwachen Glanz der Sonne zwischen Sonnenuntergang und Einbruch der Nacht. Vorsichtig näherte sie sich einem abgelegenen Bauernhof, der etwas von der Straße versetzt war. Die Fenster leuchteten wie die aus einem Kürbis ausgeschnittenen Augenhöhlen am Allerheiligenabend.
Prüfend ließ Keziah den Blick über die Hecken schweifen, die die Weiden des Farmers säumten. Waren sie sicher genug, um dort ihr Nachtlager aufzuschlagen? Ein leichter Abenddunst bedeckte ihr Haar wie ein feuchtes Netz, und sie ertappte sich bei dem Wunsch, die Nacht in einer warmen Scheune verbringen zu dürfen. Trotzdem bahnte sie sich einen Weg an der Hecke entlang, ohne den Bauernhof aus den Augen zu lassen. Die kleinste Bewegung würde ihr auffallen. Für die gaujo waren herumstreunende Zigeuner alles andere als willkommene Gäste. Niemals würde sie vergessen, wie die Aussage eines Farmers ihren Vater Gabriel ins Gefängnis gebracht hatte.
Sie nahm das Taschentuch, in das sie die wenigen restlichen Münzen eingeknotet hatte, und schob es in ihr Mieder, wo es sicher war. Dann hüllte sie sich in ihren Schal und streckte sich unter der Hecke aus. Bei dem Gedanken, dass selbst ihre Großmutter es nicht geschafft hatte, den letzten Fluch Patronellas rückgängig zu machen, umklammerte Keziah ihr Amulett und fand ein wenig Trost in der alten Roma-Weisheit: »Auf jedes Pech folgt ein Glück!«
Sie starrte hinauf zu dem beinahe vollkommen runden Gesicht des Mondes und betete zu Shon, seinem weiblichen Geist. Sie kannte die Wahrheit über die Schöpfung schon seit ihrer Kinderzeit. Bei der Entstehung der Welt war Kam, die Sonne, ein großer Zigeunerkönig gewesen. Jeden Tag verfolgte er seine schöne Schwester Shon am Himmel. Aber noch bevor er morgens aufstand, hatte sie es bereits geschafft, über den Horizont zu entwischen, um eine Verbindung mit ihrem eigenen Bruder zu vermeiden. Als er sie schließlich doch einfing, wehrte sie sich so heftig,
dass die Erde in Dunkelheit versank. Während dieser ersten Sonnenfinsternis verführte er Shon. Aus der Vereinigung der beiden Geschwister war das Volk der Roma entstanden.
Nach ihrem eigenen Gebet schloss Keziah rasch noch das christliche Vaterunser auf Romani an, als Zugabe sozusagen. » Moro Dad …« Als sie zum Amen kam, » Avali. Tachipen «, war sie überzeugt, dass sie sowohl die Roma- als auch die gaujo -Götter zufrieden gestellt hatte. Man kann nie vorsichtig genug sein.
Das Einschlafen war nicht leicht. Immer wieder kamen ihr ihre frühesten Erinnerungen in den Sinn. Sie war damals erst vier Jahre alt gewesen.
Ihr Roma-Lager lag im Dunkeln, erleuchtet nur von den vielen kleinen Feuern im Zentrum der jeweiligen Familienclans. Ihr Vater Gabriel, damals selbst noch ein halber Junge, war der schönste Mann auf der Welt. Seine dunklen Augen verloren sich in dem Zauber, den er mit seiner Violine beschwor. Sein Liebeslied verführte ihre schöne, junge Mutter, deren goldenes Haar wie feine Gaze durch die Luft flog, als sie aufsprang. Sie winkte Keziah heran und tanzte mit ihr. Keziah war entzückt von den violettblauen Augen ihrer Mutter, die ihr wie ein Spiegelbild ihrer eigenen erschienen.
Vor der nächsten Erinnerung schreckte sie zurück. Es war der Tag, an dem Gabriel einen hotchiwitchi mitbrachte, einen wilden Igel, der als Delikatesse für den Kochtopf galt. Den Roma-Gesetzen zufolge war es
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