Die Blüte des Eukalyptus
sie zum ersten Mal sah, brannte ich förmlich darauf, sie zu malen. Ihre Bewunderung schmeichelt mir – niemand hat mich je zuvor so geliebt. Aber ist das genug? Könnte ich mir vorstellen, den Rest meines Lebens mit ihr zu verbringen?
Nach dem Gottesdienst nahm Tante Georgina die Sache in die Hand. Daniel erhielt die Aufgabe, Saranna nach Hause zu geleiten
– zum ersten Mal waren sie ohne Anstandsdame unterwegs. Daniel nutzte die Gelegenheit, um einen Umweg am Treidelpfad neben dem Kanal zu machen. Als sie die Seufzerbrücke erreichten, hörte er nur mit halbem Ohr auf Sarannas Erzählungen von zum Tode verurteilten Häftlingen, die die Brücke auf dem Weg zur letzten Absolution vom Northgate Prison zur St. John’s Chapel überquert hatten. Dann überrumpelte er sie. »Ist dir klar, dass ich keinen Vater für das Kirchenregister angeben kann, wenn wir heiraten, Saranna? Die ganze Welt wird erfahren, was du weißt. Ich bin ein uneheliches Kind.«
Saranna wirkte so durcheinander, so rührend, als ihre Angst ans Tageslicht gezerrt wurde, dass Daniel einen Anflug von Zorn empfand.
»Das habe ich mir gedacht! Für dich sind gesellschaftliche Regeln wichtig, aber bitte nimm zur Kenntnis, dass sie für mich keinerlei Bedeutung haben. Ich werde mir aus eigener Kraft einen Namen machen.«
Bevor sie ihre Verlegenheit abstreiten konnte, beschloss Daniel, sich selbst zu prüfen.
Er presste sie unsanft gegen eine Steinmauer. Sein Kuss war rau und entschlossen – zum ersten Mal im Leben küsste er ein Mädchen. Diese Empfindung musste er erforschen. Dass es Saranna deutlich nervös machte, erfüllte ihn mit einem angenehmen Gefühl von Macht.
Als ein Paar mittleren Alters näher kam und die beiden missbilligend musterte, löste sie sich hastig von ihm.
Atemlos fragte sie: »O Daniel, bedeutet dieser Kuss, dass wir …?«
»Es bedeutet nichts weiter, als dass ich dich geküsst habe! Große Künstler halten sich nicht an konventionelle moralische Regeln. Und ich habe die Absicht, ein großer Künstler zu werden. Die Kunst wird stets meine Geliebte sein. Das muss die Frau eines Künstlers akzeptieren.«
Damit ging er weiter, während Saranna kleinlaut folgte.
Schließlich zupfte sie ihn am Ärmel. »Ich verspreche dir, dass ich deine Geliebte respektieren werde, wenn du mich zu deiner Frau machst.«
Daniel nickte, wusste allerdings nicht genau, ob er gewonnen oder verloren hatte.
Die größte Kunstausstellung, die Daniel je gesehen hatte, war voll mit Familien auf einer Führung. Sein Stolz war leicht angekratzt, weil Saranna die Eintrittskarten für sie beide bezahlt hatte. Es war ihm bewusst, dass sie nun hinter ihm hertrottete und ihm mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Kunstwerken.
Plötzlich blieb er vor einem Ölgemälde stehen, wie gebannt von der Abbildung einer fast nackten Frau mit langem braunem Haar, die am Boden kniete und die Arme flehend zum Himmel ausstreckte. Das war ihr Gesicht!
»Clytië, gemalt von Thomas Linton Hayes. Ein Jahr vor meiner Geburt!«
Sarannas behandschuhte Hand flog zum Mund. »Dieselben Initialen wie auf dem Porträt deiner Mutter! Im Katalog steht, dass er vor zehn Jahren gestorben ist.«
In Daniels Augen standen Tränen. Saranna wurde kreidebleich, so peinlich war ihr das Ganze, doch Daniel scherte sich nicht um die Blicke der anderen, während er das Bild in sich aufnahm.
»Sieh sie dir an. Clytië. Sinnlich und trotzdem unschuldig. Meine Mutter hatte den Mut, nackt, wie Gott sie geschaffen hatte, für einen Künstler zu posieren.« Mit einem Ausdruck milder Verachtung wandte er sich zu seiner Verlobten um. »Und du , Saranna? « Daniel lächelte spöttisch, als er ihren verwirrten Ausdruck sah. Dann marschierte er weiter, zufrieden, dass er seine Ansicht deutlich gemacht hatte. Wenn ich dich heirate, dann zu meinen Bedingungen, kleine Maus .
Als Daniel von der Bank zur Galerie zurückeilte, schlug die Kirchenuhr Mittag. Ein zunehmend mulmiges Gefühl erfüllte ihn bei dem Gedanken an seinen herannahenden Hochzeitstag am 15. Juli. Er ließ einen Karren vorbeirumpeln und hielt wie angewurzelt inne, als er durch das Schaufenster sah, was sich im Innern der Galerie abspielte.
Wie ein Mime in einem Gebärdenspiel gestikulierte Maynard Plews ungewöhnlich erregt vor zwei Polizeibeamten.
Daniels erster Impuls war, zu fliehen. Der zweite, zu bluffen. Sollte es einen Verdacht hinsichtlich des sechsten Landschaftsbildes geben, was konnten sie ihm schon beweisen? Das Original
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