Die Blüte des Eukalyptus
inzwischen hatte er einen derartigen Hunger, dass er seine Schuhsohle verschlungen hätte – wären ihm seine Stiefel nicht gestohlen worden. Das Paar, das er trug, hatte er der Leiche eines älteren Mithäftlings ausgezogen.
Die anderen Häftlinge in seiner Reihe machten den Eindruck, als hätten sie jede Hoffnung aufgegeben. Ihre zerlumpten Kleidungsstücke
würden ihnen kaum Schutz vor dem Winter bieten können. Eine einzige rebellische Stimme sang ein derbes Lied, als machten sie einen Ausflug.
Die Nebelschwaden waren so dicht, dass Daniel an eine Einbildung glaubte, als er die einsame Gestalt am Straßenrand stehen sah. Die Kapuze ihres blauen Umhangs verhüllte alles, bis auf ihre Augen.
Dann hörte er Plews’ Stimme und wusste, dass die Erscheinung echt war. »Geh nach Hause, Mädchen!«, rief er. »Vergiss mich. Für dich bin ich tot.«
Daniel begegnete Sarannas Blick und sah ihren verschüchterten Ausdruck. Dann wandte sie sich ab und verschwand im Nebel.
Die Ketten zwangen ihn weiterzugehen, und in seinem Kopf war nur Platz für einen einzigen Gedanken: Heilige Muttergottes! Wie soll ich sieben Jahre überleben, ohne zu malen?
SIEBEN
J ake Andersen spürte, wie sein Herz heftig schlug, als die zahnlose Putzfrau des Hotels Rose and Crown in Sydney Town ihn aufmerksam betrachtete. Nach all den Monaten schien seine Suche nach Jenny und Pearl endlich von Erfolg gekrönt zu sein.
»Aye, bildhübsch war sie. Warten Sie.«
Jake blieb im Foyer zurück. Würde sie mit Jenny zurückkehren? Oder mit Pearl?
Seine Hoffnung schwand, als sie allein zurückkam. Mit einem triumphierenden Grinsen überreichte sie ihm ein elegantes, spitzenbesetztes Taschentuch mit einem eingestickten J in der Ecke. Jake stieg ein Hauch von Jennys französischem Parfüm in die Nase.
»Das hat sie vergessen. War immer elegant gekleidet. Nie hat sie ein Kleid oder einen Hut zwei Mal getragen.«
»War sie mit einem kleinen Mädchen unterwegs?«
»Ein Kind habe ich nie gesehen. Aber sie hatte immer ihren ausländischen Begleiter im Schlepptau.«
Ausländisch . Dieser Hinweis ließ Jake zusammenzucken. »Wann waren sie hier? Und unter welchem Namen?«
»Vor ein paar Wochen. Ich weiß noch, dass sie einen Pelz trug, obwohl es nicht wirklich kalt war. Aber was den Namen angeht
– die meisten Frauen wie sie nennen sich Smith, Brown oder Jones.«
Jake bezahlte sie für die Mühe und ging. Frauen wie sie . Der achtlose Ausdruck hinterließ einen schalen Nachgeschmack in seinem Mund.
Er kam sich wie der Bauer in einem grausamen Schachspiel
vor, in dem der Mistkerl mit Jenny ihm stets einen Schritt voraus war. Aber wo war seine kleine Prinzessin? Was war mit Pearl geschehen? Er steckte sich Jennys Taschentuch in die Hemdtasche. Die Wärme seines Körpers reaktivierte den Duft und brachte schmerzvolle Erinnerungen mit sich, doch er konnte sich nicht dazu durchringen, es wegzuwerfen, während er durch die George Street zum Watch House ritt.
Nach Jennys Verschwinden hatte Jake mit ihrer und Pearls Beschreibung in allen Polizeirevieren, Militärkasernen, Krankenhäusern, Arztpraxen, Hotels, Herbergen und Droschkenunternehmen der Städte vorgesprochen, durch die er gekommen war. Und er hatte auch die Klatschmäuler nie vergessen – sogar im kleinsten Kaff gab es mindestens eins.
Er hatte zwar kein Bild von Jenny, doch heute hatte sich seine Beschreibung ausgezahlt. Dass sie vor einiger Zeit mit einem reichen Ausländer hier in Sydney Town gewesen war, deutete darauf hin, dass sie vermutlich an einem luxuriösen Ort lebte. Doch das konnte auch die neue Siedlung bei Port Phillip bedeuten, die sie jetzt nach einem gottverfluchten britischen Premier in Melbourne Town umbenannt hatten.
Im Watch House an der George Street hörte sich ein alter Polizeibeamter seine Beschreibung von Jennys zerbrechlicher Figur an und warf einen zynischen Blick auf seine Muskeln.
»Die meisten Frauen machen sich davon, weil ihre Ehemänner sie verprügeln.«
Zum x-ten Mal wiederholte er den abgedroschenen Satz: »Ich schlage meine Frau nicht.«
»Sie sollten der Wahrheit ins Auge sehen, Andersen. Ausgerissene Ehefrauen, weggelaufene Dienstmädchen und ausgesetzte Kinder gibt es in dieser Kolonie wie Sand am Meer. Wenn sie hungrig genug sind und keinen Mann haben, der sie beschützt, landen sie am Ende alle in The Rocks.« Er warf Jake einen prüfenden Blick zu und setzte dann hinzu: »Aye, auch die Kleinen.«
Innerhalb einer Stunde wurde Jake klar, was
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