Die Blüte des Eukalyptus
wortlos die Hand aus, um ihr etwas kleines Rotes zu geben. O Gott, nein! Er kommt auf mich zu!
Von Panik ergriffen wich sie zurück und wurde dann von einem starken Schwindel überwältigt. Es fühlte sich an, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen.
Als Keziah wieder zu sich kam, war sie allein, und dann bemerkte sie, dass sie außerhalb der Reichweite des Schattens bewusstlos geworden war. Neben ihrer ausgestreckten Hand lag ein rotes Band – das traditionelle Symbol, das ein Roma um den Hals eines Neugeborenen legte, wenn er seine Vaterschaft anerkannte.
Das Schicksal hatte sie auf einen Pfad geführt, den sie nicht gewollt hatte. Es war nicht der Geist des toten Kindes gewesen, sondern
der ihres Ungeborenen, der seine stumme Bitte vorgetragen hatte. Lass zu, dass ich geboren werde.
In dem Geisterkind hatte sie Caleb Morgans Gesichtszüge erkannt. Dasselbe blonde Haar mit dem Wirbel auf dem Hinterkopf, dieselbe hohe Stirn, dieselbe Nase und dasselbe Kinn. Nur die Augen waren so violettblau wie diejenigen, die sie selbst von ihrer Mutter geerbt hatte. Noch wenige Augenblicke zuvor war sie fest entschlossen gewesen, das ungewollte Kind loszuwerden, doch jetzt, nachdem sie sein kleines Gesicht gesehen hatte, brachte sie es nicht mehr fertig, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Während sie das schmale rote Bändchen in der Hand hielt, schossen ihr schreckliche Gedanken durch den Kopf. Sie hörte die Warnung ihrer Großmutter. Wenn du in der Welt der gaujo einen falschen Schritt machst, wird er dich auf ewig verfolgen.
Keziah hatte ihr Ungeborenes in ein auswegloses Labyrinth geführt. Sie kniete auf dem Friedhof nieder, löste sich aus der Gegenwart und bat ihre Ahnen um Rat. Wie konnte sie die Existenz dieses Kindes vor Gem verbergen? Die Ahnen schwiegen. Ein grausiger Gedanke durchfuhr sie. War sie in ihren Augen bereits eine mahrime , eine Ausgestoßene?
Dann aber rüttelten sie die Gefahren der Gegenwart wieder wach. Die Zeit lief ihr davon. John Morgan würde sie ausfindig machen, wenn sie sich nicht beeilte. Die Arroganz der Morgans würde niemals zulassen, dass eine schmutzige Zigeunerin ihn austrickste.
Im Hafen von Liverpool herrschte hektische Betriebsamkeit. Die Seeleute riefen in einem halben Dutzend ausländischer Sprachen durcheinander, während sie von einer Schänke zur nächsten zogen.
Nachdem sie stundenlang durch die Docks gewandert war, auf der Suche nach einem Schiff, das nach New South Wales auslief, hatte das baxt schließlich ein Einsehen mit ihr, und sie ergatterte eine stornierte Passage auf der Harlequin , einem Auswandererschiff, das während der abendlichen Flut auslaufen würde.
Wohlige Erleichterung durchströmte ihren Körper, als sie dem
Mann das Geld reichte. Er bat sie um ihren Namen für die Passagierliste, und sie zögerte. Roma-Frauen behielten ihre Mädchennamen nach der Heirat, doch jetzt musste sie Stanley durch Gems Nachnamen ersetzen.
»Mrs. Smith, Witwe«, antwortete sie. Sie vertraute darauf, dass diese List nicht nur die Versuche der Morgans vereiteln würde, sie in den wenigen Stunden vor dem Auslaufen der Harlequin , sondern auch in Zukunft aufzuspüren. Normalerweise wurden nur die Namen der Passagiere festgehalten, die eine Kabine hatten. Als eine von neunzig Auswanderern, die auf dem Zwischendeck reisten, hoffte sie, einer offiziellen Erfassung aus dem Weg gehen zu können.
Keziah haderte mit sich, weil sie gezwungen war, einen Teil des Geldes, das ihr John Morgan gegeben hatte, für die Überfahrt auszugeben.
»Es geht nicht anders«, sagte sie sich und seufzte. Dann nähte sie Calebs Münzen in den Saum ihrer einzigen Anschaffung, eines langen schwarzen Kleides, das sie als Witwe identifizieren würde und ihren Bauch, der sich während der Reise immer mehr wölben würde, verstecken sollte.
Und als sie sich noch ein letztes Mal in der Welt umsah, die bald für immer verloren wäre, spürte sie einen Kloß im Hals. Dies waren vermutlich ihre letzten Stunden auf englischem Boden, und obwohl sie sich in erster Linie als Roma fühlte und erst danach als Waliserin, konnte sie die Tränen, die ihre Sicht trübten, nicht unterdrücken.
Sie sah am Masttop der Harlequin vorbei, die sie nach New South Wales bringen würde, und fragte sich, wie, um Himmels willen, sie in jenem gottverlassenen Land Gem wiederfinden sollte. Und wenn sie ihn fand, wie würde sie die Worte finden, ihn um Vergebung zu bitten? Die Geschichte hatte sich wiederholt. Genau
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