Die Blütenfrau
nicht laut genug, denn inzwischen passierte der zweite Wagen die Sperre in den Innenhof. Wahrscheinlich hatte der Fahrer damit gerechnet, dass Wesselmann schon längst ins Gebäude verschwunden und die Luft somit reinwar. Das Rufen und Protestieren der Menschen war jetzt ohrenbetäubend. Oder kam es Wencke nur so vor? Jedenfalls schien keine der Warnungen aus ihrem Mund gehört zu werden. Von niemandem. Peter Sendhorst machte große Schritte. Er stolperte nicht. Er zitterte nicht. Er wurde auch nicht langsamer. Peter Sendhorst wusste genau, was er tat. Er war dabei, den Mann zu erschießen, den man ihm als Mörder seiner geliebten Tochter präsentiert hatte.
Wencke rannte weiter, gleich war sie bei ihm, konnte ihm die Pistole aus der Hand schlagen oder ihn umrennen, damit er nur in die Luft oder auf den Boden schoss. Es sollte nicht noch ein Mord geschehen. Nicht noch einen Toten geben. Nicht noch einmal wollte sie zu spät sein.
Wesselmann hatte sich hochgerappelt. Im selben Moment riss er die Augen weit auf. Er musste nach Wencke der zweite gewesen sein, der die Gefahr erkannte. Aber er schrie nicht. Er blieb stumm. Fast so, als habe er damit gerechnet, gleich erschossen zu werden.
Peter Sendhorst streckte jetzt bereits den Arm. Auf einmal schrien alle durcheinander. Sie hatten verstanden. Die Aktion war schiefgelaufen. Das verdammte Ablenkungsmanöver hatte alle unaufmerksam werden lassen. Zu sicher hatten sie sich gefühlt. Aber die Verzweiflung ließ sich nicht so leicht austricksen. Und Peter Sendhorst war verzweifelt. Er hätte sich niemals so einfach täuschen lassen. Er kniff ein Auge zusammen. Keine Frage, dieser Mann hielt nicht zum ersten Mal eine Waffe in der Hand. War er nicht beim Militär gewesen? Er zielte. Und er würde treffen.
Wencke war bei ihm angekommen, sie spürte die Hitze des Mannes, der sich zum Richter und Henker erhoben hatte. Sie stand jetzt genau hinter ihm und konnte über seine Schulter sehen, sein Blickfeld einnehmen. Sie sah, was er sah:
Wesselmann, der wie angewurzelt vor dem Bulli stand. Ein unfehlbares Ziel. Daneben Kerstin, die nichts mitbekam, die Axel erblickt hatte, die sich auf ihren Verlobten freute, die die Gelegenheit des kurzen Durcheinanders nutzen wollte, um ihm entgegenzurennen. Als sie vor Wesselmann den Weg kreuzte, hatte sie ein Lächeln im Gesicht.
Der Schuss war so laut, dass er das Chaos ringsherum übertönte und all die aufgebrachten Menschen zum Schweigen verdonnerte. Niemand rührte sich, nur Rüdiger Wesselmann griff sich ans Herz, als suche er das Einschussloch. Doch er war unverletzt. Erst als er das begriff, sah er die Frau vor sich auf dem Boden liegen. Und sah das Blut aus ihrem Kopf rinnen.
Wencke hatte Peter Sendhorsts Arme nach hinten gebogen und hielt ihn fest mit all der Kraft, die ihr beim Anblick der leblosen Kerstin noch übrig blieb. Viel war das nicht, aber wahrscheinlich brauchte sie den Schützen auch nicht weiter zu fixieren. Er war im Augenblick des Abdrückens in sich zusammengesunken, war weich und klein und müde geworden.
«Ich habe einen Unschuldigen getroffen», stammelte er immer wieder.
«Auch Wesselmann wäre der Falsche gewesen», antwortete Wencke leise. Zwei Beamte eilten jetzt auf sie zu, nahmen Sendhorst in Gewahrsam und zerrten ihn fort. Fast war sie traurig, dass er nicht mehr bei ihr stand, dass sie sich nicht mehr hinter seinem Rücken verstecken konnte.
Denn nun musste sie mit ansehen, wie Axel die Treppe hinabstürzte, wie er vor Kerstin auf den Boden fiel, sich über sie beugte und sie berührte, als würde er etwas suchen. Ja, er suchte ein bisschen Leben in ihr, ein wenig Hoffnung in dem Körper dort auf den Pflastersteinen. Er gab nicht auf. Selbst als zwei Sanitäter kamen und auch der Notarzt seinen Kofferbereits auspackte, selbst da blieb Axel neben ihr sitzen, streichelte sie hier und berührte sie dort und redete in leisen, unverständlichen Sätzen auf sie ein. Und er weinte. Aber das merkte er wahrscheinlich nicht.
Pal kam auf Wencke zu, legte den Arm um sie und zog sie an sich. Wortlos. Das tat gut.
«Mein Gott, Kerstin … Nein! …» Sie konnte nur noch stammeln.
«Du hättest es fast geschafft, Wencke. Nur um ein Haar, und du hättest ihm die Scheißwaffe aus der Hand geschlagen.»
«Aber ich war immer noch zu langsam», sagte Wencke.
«Aber du hast Sendhorst als Einzige gesehen. Bei dem ganzen Gewühl … Woher wusstest du, dass er da ist?»
Darauf konnte Wencke keine Antwort
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