Die Blütenfrau
geben. Sie wusste es selbst nicht. Und es war jetzt auch egal. «Ist sie tot?»
«Ich weiß es nicht. Sie versuchen noch …»
«Verdammt, sie wollte mir irgendetwas sagen. Vorhin, beim Aussteigen, sie hat dauernd so gestikuliert, als gäbe es etwas ganz Dringendes.»
«Beruhig dich doch. Komm, wir gehen in dein Büro.» Pal schob sie an.
Da piepte es in Wenckes Jackentasche. Ein Memo-Ton. Irgendjemand musste ihr in den letzten Minuten eine Nachricht geschickt haben. War es das, worauf Kerstin sie hatte aufmerksam machen wollen? Dass sie eine SMS aufs Handy geschickt hatte?
Hektisch holte Wencke den Apparat vor. Tatsächlich, eine Nachricht von Kerstin. Sie drückte auf «Lesen».
hab gespräch gehört erb und der praktikant irgndwie komisch wesselmann nicht der mörder glaub ich später mer kerstin
Die Botschaft war offensichtlich eilig ins Telefon getipptworden, es musste Kerstin wichtig gewesen sein, diese Sache loszuwerden.
«Wo ist Dr. Erb?», fragte Wencke scharf.
«Wie bitte? … Keine Ahnung. Er wollte fahren …»
«Aber doch nicht nachdem, was gerade passiert ist.»
Pal stellte sich auf einen Mauervorsprung und versuchte, den Tumult im Innenhof zu überblicken. «Ist wohl schon weg. Sein Kapitalistenschlitten steht auch nicht mehr da.»
«Das gibt’s doch nicht. Hier stirbt ein Mensch, und er macht sich auf die Socken? Immerhin hat er die letzten Tage an Kerstins Seite verbracht. Das kann ihn doch nicht unberührt lassen, wenn sie vor seinen Augen …»
«Worauf willst du hinaus?»
Wencke konnte es noch nicht in Worte fassen, aber ihr Eindruck von diesem Mann … dann diese Nachricht von Kerstin, in der sie ebenfalls über Ungereimtheiten schreibt … und nicht zuletzt sein Verschwinden, einer Flucht nicht unähnlich, das alles …
«Er spielt keine Nebenrolle.»
«Was?» Pal konnte nicht folgen. Wie denn auch, Wencke kam ihren eigenen Gedankengängen ja selbst nicht richtig hinterher.
«Dr. Erb tut so, als wäre er unfähig. Er gibt sich als nerviger, unnützer Berater aus, der im Grunde nur im Wege herumsteht. Aber in Wahrheit steckt er viel weiter drin, als wir vermuten.»
«Du hältst ihn doch nicht allen Ernstes für den Mörder, Wencke?»
«Nein, das nicht. Aber ganz unschuldig ist er auch nicht.»
Die Sanitäter hatten jetzt eine Wärmedecke um Kerstin gewickelt, hoben sie auf eine Trage und schoben sie in den Wagen. Axel stieg mit ein. Er drehte sich nicht nach Wencke um. Er brauchte sie in diesem Moment nicht. Wencke würdeihm sicher die beste Hilfe sein, wenn sie herausfand, was hinter der ganzen Geschichte steckte.
«Pal», sagte sie. «Wir gehen nicht ins Büro. Britzke soll die Vernehmung machen. Pack deine Sachen zusammen, wir fahren sofort los.»
«Und wohin?»
«Nach Hannover.»
39.
Olive
Botanischer Name: OLEA EUROPAEA
Die Blüte gegen Erschöpfung
Das Büro war leer. Wie verabredet hatte Beatrix den Schreibtisch geräumt, und nirgendwo gab es einen Hinweis darauf, dass hier noch vor wenigen Stunden eine Vorzimmerdame ihren Job getan hatte. Ein bisschen traurig war Tillmann Erb schon. Es war ja nicht das erste Mal, dass ihm eine gute Kraft flöten ging. Und es würde nicht das letzte Mal sein. Es sei denn, er schaffte es, sich in einem anderen Tätigkeitsbereich zu etablieren. Weg von diesen Gutachten, hin zur Forschungsarbeit, in ruhigere Gewässer also. Gleich würden die Leute kommen, die dafür sorgen konnten.
Er hatte das Radio angestellt und hörte die Nachrichten. Die Polizistin schwebte noch immer in Lebensgefahr. Ein Kopfschuss habe große Teile des Sehzentrums zerstört, man könne keinerlei Prognosen abgeben, wie die Chancen für Kerstin Spangemann standen. Eine nette und fleißige Frau, dachte Erb, sehr, sehr schade. Sechsunddreißig Jahre alt, ein vierjähriges Kind, verlobt mit einem Kollegen, in drei Monaten sollte Hochzeit sein. Daraus würde wohl nichts werden.
Es war nicht seine Schuld. Die Umstände hatten zu dieser Tragödie geführt. Wäre Wesselmann nicht gestolpert, dann hätte Sendhorst getroffen. Na ja, zumindest halbwegs. Allegras Mörder hätte er dennoch verfehlt. Denn Wesselmann hatte mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun, das wusste Erb. Er war nur der richtige Mann am falschen Ort,und man hatte eben schnell jemanden gebraucht, der von Gernot Huckler ablenkte, damit die Öffentlichkeit sich nicht über den Gutachter hermachte.
Der Fall Wesselmann war sozusagen ein geplanter Justizirrtum.
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