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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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hinterher. «Nur gucken – nicht anfassen!» stand darunter. Blöde Werbung, fand Gernot. Aber den Satz hatte er sich auch schon oft selbst zugeflüstert.
    Er wusste, es gab einen Fachausdruck dafür, was er hier gerade durchmachte. Die Diagnose lautete: Paraphilie. Und es gab sogar mehrere Kataloge, in denen das Ganze klassifiziert war. Den verschiedenen Formen hatte man Zeichen gegeben, ICD-10   Code F65.4 oder DSM-IV/​302.2.   Wissenschaftler sprachen von einer Störung der Sexualpräferenz. Nach vorsichtigen Schätzungen gab es bis zu 200   000   Pädophile in Deutschland. Die meisten davon heimlich, im Verborgenen, versteckt und verschämt. Wer rennt schon freiwillig zum Arzt, wenn er feststellt, dass sein Herz zu rasen beginnt, sobald ein hübsches Kind in der Nähe ist? So gut wie niemand. Und das, obwohl es doch Hilfe gab. Therapien. Medikamente. Aber Gernot hatte inzwischen auch gelernt, dass er amEnde selbst die letzte Instanz war. Da stand er dann ganz allein vor diesem Chaos, welches in ihm herrschte.
    Jetzt gerade war es schlimm. Jetzt, in diesem Augenblick, hier am Altglascontainer, in den gerade eine eifrige Mutter klebrige Breigläschen warf, was die wilden Wespen ringsherum zu freuen schien.
    Er hatte gedacht, dieses Gefühl wäre weg. Gernot Vanmeer hatte tatsächlich geglaubt, er hätte es überlistet. Aber da hatte er sich getäuscht. Es war offensichtlich nicht so, dass er die Sache jemals im Griff haben würde, immer würde es umgekehrt sein: Sie hatte ihn im Griff. Fest und ausweglos. Da konnte man reden und Pillen schlucken und hypnotisiert werden und heiraten, so viel man wollte. Es brachte nichts: Diese Sehnsucht würde ihm immer das allernächste Gefühl sein.
    Er suchte in seiner Jackentasche die kleine Dose, die Esther ihm einmal eingesteckt hatte. Eine Pillendose, gefüllt mit sogenannten Notfall-Drops, irgendwas mit Bachblüten, so viel wusste er. Und seine Frau behauptete steif und fest, sie würden helfen und beruhigen. Gernot wusste nur, sie schmeckten nach Honig und richteten keinen Schaden an. Also nahm er eine der Pillen und wartete ab.
    Die Mädchen erschienen nicht allein in der Schiebetür. Eine Frau war dabei. Sie trug eine dottergelbe Schürze mit dem Emblem der Bäckerfiliale. Alle drei schleppten Plastiktüten über den Parkplatz und lachten. Die Affektierte beugte sich zu einem struppigen Dackel herunter, der an den Fahrradständern festgebunden war und schon eine Weile gekläfft hatte. Gernot hörte es erst jetzt, vorher hatte er das Gebell nicht wahrgenommen. Er konnte nicht so viele Sinne auf einmal benutzen. Das lag an den Psychopharmaka; die drosselten den Strom, der die Nervenenden reizt. Und wenn schon die ganze Energie auf das Sehen konzentriert war,auf das «Den-Supermarkteingang-Anstarren», dann reichte nichts mehr für die Ohren, die Nase oder die Haut.
    Das andere Mädchen fürchtete sich vor dem kleinen Hund, das merkte man ihr an. Sie versuchte die Angst zu verbergen, aber ihre Hände waren im seltsamen Winkel an den Oberkörper gezogen, und sie trat angespannt von einem Fuß auf den anderen. Gernot fühlte eine warme Zärtlichkeit in sich aufsteigen. Schließlich hörte er sie fragen: «Können wir weiter? Ich muss noch Hausaufgaben machen.»
    Ob die beiden Mädchen Schwestern waren?
    Meine ist jedenfalls die jüngere, dachte er.
    Nein, sie ist nicht deine, kam es aus einer anderen Ecke seines Bewusstseins.
    Lass mich doch schwärmen. Aus der Entfernung. Nur gucken. Nicht anfassen. Ist doch nicht verboten.
    Es ist zu gefährlich. Beobachte dich lieber selbst. Du bist es, den du im Auge behalten musst. Pass auf dich auf.
    Die beiden Mädchen folgten der Frau zu einem der hinteren Parkplätze und stiegen in einen rostigen Volkswagen.
    Auf dem Weg zum Motorrad, als er sich schon den Helm auf den Kopf schob, stockte Gernot plötzlich, blieb auf der Stelle stehen und ließ die kleine Familie in ihrem Wagen an sich vorbeiziehen. Ein paar Mal musste er tief atmen.
    Was mache ich hier eigentlich, fragte er sich.
    Es gibt immer eine Alternative, hatte sein Therapeut gesagt. Er konnte sich immer gegen den Trieb entscheiden. Und wenn er in einer Situation steckte, in der er sich bewusst wurde, dass sich die Verhältnisse veränderten, dass sein Begehren die Oberhand gewann, dann sollte er stehen bleiben, tief atmen und sich selbst fragen, was er eigentlich gerade machte. Und dann sollte er sich bewusst gegen das entscheiden, was er bis zu diesem Moment

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