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Die Blütenfrau

Die Blütenfrau

Titel: Die Blütenfrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Lüpkes
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vorgehabt hatte. Er sollte den nächsten «Notausgang» suchen und die Situation verlassen.Er musste konsequent nein dazu sagen, am besten laut und deutlich.
    «Nein!»
    Stattdessen sollte er etwas unternehmen, die Gedanken auf etwas anderes lenken und eine Herausforderung suchen. Am allerbesten wäre es, so hatte sein Therapeut gesagt, wenn er etwas wirklich Sinnvolles machte, jemandem half. Eine gute Tat vollbringen, um eine schlechte zu vermeiden, so lautete der Slogan. Statt auf nackte Mädchenbeine zu schielen, sollte er zum Beispiel alten Damen über die Straße helfen. So bekommt man ein gutes Selbstwertgefühl, Anerkennung von den Mitmenschen – und bleibt sauber.
    Und diese Macht besitzen Sie, hatte sein Therapeut gesagt. Rückfallvermeidungstaktik hatte er es genannt. Doch als der Psychologe in der JVA Meppen ihm all diese Ratschläge erteilte, hatte es so furchtbar abstrakt geklungen. Aber jetzt erkannte Gernot, dass der Mann genau so einen Augenblick wie diesen hier gemeint hatte.
    Also ging er in den Supermarkt, kaufte sich zwei grüne Äpfel und eine Plastikflasche stilles Wasser. Als er dann wieder draußen war, fehlte von dem Mädchen, das ihm gefallen hatte, jede Spur. Gernot fühlte sich leer.
    Und irgendwie gut.
    Er konnte es. Er konnte einfach so sagen: Nein, ich will es nicht. Ich nehme Abstand.
    Dann hatte auch dieser Dr.   Erb mit seinem Gutachten vielleicht recht gehabt. Man konnte ihn wieder unter die Menschen lassen. Er stand da und trank die Flasche Wasser fast in einem Zug aus, wischte sich den Mund ab und schaute sich um. Diese Freiheit machte ihn aber auch unsicher. Seine Sehnsucht war immer die treibende Kraft gewesen. Sie führte ihn auf die Straße und zu den Menschen. Sie öffnete seine Wahrnehmung für die Welt. Wenn er jetzt sagte: Ich möchtedas nicht mehr, ich will keine Mädchen mehr beobachten, nie wieder ihre Nähe suchen, um etwas von ihrem Dasein in mir aufzusaugen – dann hatte er keinen Grund mehr, überhaupt irgendetwas zu tun. Er würde es wahrscheinlich vermissen. Es war ein Teil von ihm, und zwar ein wesentlicher.
    Gernot strengte sich an, die Gegend schön zu finden. Viel war er im letzten dreiviertel Jahr noch nicht herumgekommen, trotz des Motorrads, das eine seiner ersten Anschaffungen in der Freiheit gewesen war. Ein symbolischer Akt. Aber für Freiheit brauchte man eben auch Mut, und daran hatte es ihm in den ersten Monaten noch gemangelt. Bislang reichte es ihm schon, die alte, nicht wirklich schöne Maschine einfach nur anzuschauen und alle Touren vorerst mit dem Finger auf der Landkarte zu unternehmen. Erst seit das Wetter durchgehend sonnig war, hatte er tatsächlich Gas gegeben.
    Und heute Morgen war er das erste Mal mit einem bestimmten Ziel losgefahren. Das zuckersüße Dörfchen mit den roten Häusern lag direkt an der Küste. Der grüne Deich säumte es am nördlichen Ende und bildete ungefähr in der Mitte des Ortes eine Schlaufe, in der das Meer wie eine nasse Zunge in Erscheinung trat. Während er ein wenig herumspazierte, überlegte Gernot, ob diese kunterbunten Holzschiffe im Hafen wirklich noch zum Fischen hinausfuhren oder nur Requisiten der Küstenromantik waren. Der leichte Fischgeruch ließ vermuten, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Unmengen von Miesmuscheln und Nordseekrabben auf den Planken gelegen hatten. In den Netzen baumelten noch silbriggraue Kadaver und Seesterne.
    Auf den Bürgersteigen standen Werbetafeln. Fröhliche Kapitäne waren abgebildet. Überall gab es Matjes, paniertes Fischfilet mit hausgemachtem Kartoffelsalat oder Kutterscholle Finkenwerder Art. Auch Kännchen mit OriginalOstfriesentee auf dem Stövchen inklusive einem Stück Butterkuchen wurden zum Schlemmer-Schnäppchen-Preis angeboten. Gernot hatte jedoch überhaupt keinen Appetit, zumindest nicht auf diese Dinge.
    Der malerische Fischerhafen mündete in eine wesentlich farblosere Mole, wo am Kai eine weiße Fähre wartete. Autos fuhren im Schritttempo dicht an ihm vorbei, Gepäck wurde hektisch in fast würfelförmige Metallcontainer verladen. Auf einer Anzeigentafel stand: Nächste Fähre 16   :   30   Uhr.
    Gernot wusste jetzt, was er mit seiner Freiheit anzufangen hatte. Es konnte kein Zufall sein, dass er sich heute Morgen genau diesen Ort gesucht hatte. Sein Unterbewusstsein – vielleicht war es das gewesen – hatte sich als zielsicherer Navigator erwiesen. Er würde etwas Gutes tun. Etwas Sinnvolles. Er würde einen Menschen retten. Und dann,

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