Die Blütenfrau
schnell wie meine achtzigjährige Oma. Der kann es nicht gewesen sein, dem wäre Allegra in null Komma nix davongerannt.»
«Ein anderer Vorbestrafter will zur Tatzeit allein vor dem Fernseher gesessen haben. Rüdiger Wesselmann – vielleicht kennt ihn der eine oder andere hier ja noch.»
«Dünnes Alibi», fand Wencke. «Was hat er denn geguckt?»
«Gute Zeiten, schlechte Zeiten.» Endlich mal ein paar Lacher im Raum. «Und er weiß auch noch, dass in der Folge herausgekommen ist, dass der Junge mit den schlimmen Alkoholproblemen der heimliche Sohn vom inhaftierten katholischen Priester sein soll.»
«Immer noch ein dünnes Alibi. Dieser Handlungsstrang kommt in so ziemlich jeder Folge vor.» Die Lacher wurden lauter. Das tat gut.
«Wesselmann ist aber zudem eher auf kleine Jungs spezialisiert. Übrig geblieben ist also nur noch ausgerechnet Gernot Vanmeer.»
«Wer?»
«Gernot Vanmeer, geborener Huckler – er hat inzwischen den Namen seiner Gattin angenommen. Und die gibt ihm kein wirkliches Alibi für gestern Abend. Zwar hat sie am Telefon behauptet, er wäre zur Arbeit gegangen – er ist Fahrer bei einem Pizzaservice –, doch sein Chef hat dies nicht bestätigt. Laut seiner Aussage ist Gernot Vanmeer schon seitein paar Tagen nicht mehr zum Dienst erschienen. Eine Krankmeldung liegt vor.»
«Hm», machte Wencke.
Pal, die schon die ganze Zeit mit halber Pobacke auf der Tischkante gesessen hatte, sprang nun auf und ging im Raum hin und her. Sie war sechsundzwanzig, dies war ihr erster Job bei der Kripo, und dies war der erste Mord hier in der Gegend, seit sie im Team war. Es war nicht zu übersehen: Sie strotzte vor Tatendrang. Wie ich früher, dachte Wencke und bemerkte im selben Moment, dass sie noch nie so einen Satz gedacht hatte.
Pal räusperte sich. «Greven und ich wollten diesem Widerspruch auf den Grund gehen, also sind wir zu Gernot Hucklers Frau gefahren. Sie hat eine eigene Praxis für Naturheilkunde in der Stadtmitte. Und Achtung: Die Hauswand war mit einer unschönen Schmähschrift versehen.
Wir kriegen den Mörder
oder so ähnlich.»
Greven ergänzte: «Aufgemacht hat niemand. Die Nachbarn sagten, Mutter und Tochter seien so gegen zwei Uhr mittags mit dem Auto weg, den Mann hätten sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen.»
«Wenn ihr mich fragt», kam Pal zum Schluss, «so wie die Nachbarn das gesagt haben, der Tonfall, mit dem sie ihre Beobachtungen zu Protokoll brachten, ich wette, das Haus von den Vanmeers hat nicht erst seit gestern unter ständiger Observation gestanden. Da wäre ich auch geflüchtet.»
«Aber der Familie muss schon klar sein, dass sie es uns auf diese Weise nicht gerade leicht macht, seine eventuelle Unschuld zu belegen. Hat jemand die Handynummer von Frau Vanmeer? Ich würde gern mal mit ihr sprechen und ihr gut zureden.» Wencke schaute auf die Uhr, zwanzig vor fünf. «Mist, das muss jemand für mich übernehmen, ich sollte Emil abholen, der Kindergarten schließt um fünf.»
Alle starrten sie an. Wencke wünschte manchmal, sie könnte ein, zwei Stunden Zeit aus dem Hut zaubern. Dies war nicht das erste Mal, dass sie mitten in einer wichtigen Besprechung aufbrach, weil ihr Sohn abgeholt werden musste. Die Arbeit bei der Polizei ist wirklich nicht ideal für berufstätige Alleinerziehende, dachte sie und griff nach ihrer Jacke.
«Ich rufe da an. Ich bleib eh noch ein paar Stunden hier», sagte Axel Sanders in die plötzliche Stille hinein. «Vielleicht kommen ja noch andere wichtige Hinweise rein, oder die Vanmeers besinnen sich und tauchen direkt hier auf. Es ist vielleicht nicht das Schlechteste, wenn einer von uns die Stellung hält. Sollte was sein …», er machte eine kurze Pause und starrte Wencke an. Es war das erste Mal heute, dass sie Blickkontakt hatten. «Also, … ich hab ja deine Nummer.»
Wencke fuhr sich mit den Fingern durch das kurze Haar. Es war eine verlegene Geste. Sie war dankbar, dass die Kollegen sich so engagierten, aber sie würde heute kein Lob über die Lippen bringen. Besonders nicht in Axels Richtung.
10.
Honeysuckle
(Geißblatt)
Botanischer Name: LONICERA CAPRIFOLIUM
Die Blüte für Menschen, die sich nicht von der Vergangenheit lösen können
Den ganzen Tag waren sie bereits in der Gegend herumgefahren. Mit einem einzigen Ziel: nicht zu Hause sein.
Esther hatte durch einen Anruf bei Gernots Chef erfahren, dass ihr Mann schon seit einer Woche nicht mehr zur Arbeit ging. Diese Tatsache hatte einen
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