Die Blütenfrau
es auch schön, dass er es nach sechs Monaten mit Kerstin noch nicht vergessen hatte. Trotzdem legte sie eine erkennbare Portion Gereiztheit in ihre Stimme. «Was gibt’s denn noch?»
«Ich habe hier einen Anruf für dich.»
«Emil und ich sind gerade zu Hause angekommen. Hungrig, durstig und müde nach diesem unerfreulichen Tag, und …»
«Das ist mir alles klar, Wencke, und ich hätte euch auch bestimmt nicht behelligt. Aber der Mann hat sich mit mir nicht abgeben wollen. Er verlangte ausdrücklich die Leitung der Mordkommission, und das bist nun mal du.»
«Wer ist es denn?», fragte Wencke nach einem Seufzen.
«Ein Psychologe aus Hannover. Warte kurz, ich hab’s notiert, äh, ein gewisser Dr. Erb. Es geht um Gernot Huckler, ich glaube, er kennt ihn persönlich.»
«Okay, stell durch.»
«Mach ich. Und …» Axel zögerte.
«Ja?»
«Grüß den kleinen Mann von mir. Sag ihm, ich werde euch bald mal besuchen. Das wollte ich sowieso die ganze Zeit schon mal machen.»
«Stellst du jetzt bitte durch?»
Nach zwei Sekunden frostiger Stille knackte es im Hörer. «Herr Dr. Erb? Hier ist Wencke Tydmers, Sie wollten mich sprechen?»
«Ja, wie schön, dass ich Sie endlich erwische. Die Presse läuft mir hier die Bude ein und stellt mir Fragen zu Gernot Huckler. Da wollte ich nicht mit Informationen aus zweiter Hand ausgestattet sein und Sie daher höchstpersönlich fragen, ob gegen meinen ehemaligen Patienten ein konkreter Verdacht besteht.»
«Sie sind Hucklers Therapeut?»
«Nicht im engeren Sinne. Therapiert wurde er ja in der JVA Meppen. Dort sitzen Kollegen, die sich speziell mit den Sexualstraftätern beschäftigen. Ich habe jedoch ein Gutachten über Huckler verfasst und ihm damit zur vorzeitigen Entlassung verholfen.»
«Ach, ich verstehe. Deswegen stehen Sie jetzt im Kreuzfeuer, falls es sich um ein Fehlurteil gehandelt haben sollte.»
«So sieht es aus. Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass Huckler mit der Sache nichts zu tun hat, aber so eine Meinung wirkt ziemlich dünn, wenn sich der allwissende Mob auf einen stürzt.»
Wem sagen Sie das, dachte Wencke. «Sie werden sicher verstehen, dass ich nicht so ohne weiteres am Telefon Auskunft geben darf.»
«Ich könnte auch zu Ihnen kommen, wenn Sie wollen.»
Wencke zögerte. Das war ungewöhnlich viel Engagement für einen Menschen, der im Grunde genommen mit der ganzen Sache nichts zu tun hatte – es sei denn, er zweifelte selbst ein wenig an seinem eigenen Gutachten und hielt es für möglich, dass Huckler erneut straffällig geworden sein könnte. «Bieten Sie uns so etwas wie eine Zusammenarbeit an?»
«Wenn es Gernot Huckler betrifft – ja. Ich kenne ihn gut, ich kann sein Verhaltensmuster genau sezieren. Ich habe eine fundierte Ausbildung zum Fallanalytiker. Wer weiß, vielleicht kann ich Ihnen sagen, ob der Fall Hucklers Handschriftträgt oder nicht. Dafür müsste ich aber natürlich zunächst mehr über den Mord erfahren. Versprechen kann ich Ihnen allerdings nichts.»
«Wann könnten Sie hier sein?»
«Morgen Vormittag.»
«Okay, gut. Wir haben hier in Ostfriesland keine Experten auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie. Und so viel kann ich Ihnen schon verraten: Der Fall Allegra Sendhorst sieht nicht nur meiner Meinung nach wie das Werk eines psychisch Gestörten aus.»
«Dann sollten Sie keine Zeit verlieren.»
«Das sollte man nie.»
«In diesem Sinne: Ich bin morgen in Aurich. Danke für das Gespräch, Frau Tydmers.»
«Ich danke Ihnen.» Wencke legte auf, als Emil gerade in den Flur geschlendert kam. In der kurzen unbeaufsichtigten Zeit hatte er sich über die Einladungskarte hergemacht und das blaue Papier in viele winzige Schnipsel verwandelt. Er schien mit dem Ergebnis zufrieden zu sein. Wencke wollte erst schimpfen, doch dann merkte sie, dass ihr der blaue Brief in dieser Form eigentlich auch viel besser gefiel.
12.
Water Violet
(Sumpfwasserfeder)
Botanischer Name: HOTTONIA PALUSTRIS
Die Blüte gegen innere Reserviertheit, stolze Zurückhaltung und isoliertes Überlegenheitsgefühl
Die Beine auf dem Sofa, ein Glas Wein in der Hand, einen zufriedenen Mann an der Seite und die Tagesschau im Ersten – dies alles war vor vielen Jahren einmal in Kerstins Zukunftsvisionen von einem glücklichen Familienleben aufgetaucht. Und nun fand es wirklich statt. Vergessen waren die ersten drei Jahre als Alleinerziehende. Verheilt waren die Wunden, die Kerstins Exmann hinterlassen hatte, als er sie und die gerade
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