Die Blütenfrau
schien. Alles sah irgendwie danach aus, als habe Gernot Vanmeer alias Gernot Huckler etwas mit der Sache zu tun. Ausgerechnet. Denn das würde bedeuten, dass Wencke gestern Abend mit ein bisschen mehr Engagement und ein bisschen weniger Abgebrühtheit dem Hilferuf des Vaters hätte folgen sollen. Ute Sendhorsts Vorwürfe waren nicht unberechtigt. Der Mord wäre vielleicht zu vermeiden gewesen, wenn dieseverdammte Massenhysterie, dieses Gernot-Huckler-Syndrom Wencke nicht taub und blind gemacht hätte für die Gefahr, die tatsächlich bestanden haben mochte. Jetzt lag es an ihr und am Vorgehen ihrer Leute, dass man den Tod von Allegra Sendhorst – wenn man ihn schon nicht hatte verhindern können – so schnell wie möglich aufklärte.
«Mama, was ist ‹tot›?», fragte Emil von der Rückbank.
«Das ist, wenn man nicht mehr da ist. Wenn man nicht mehr atmet, nicht mehr denkt, nichts mehr sieht und hört.» Wencke dachte über ihre eigene Definition nach. War es dann nicht so, dass sie selbst auch schon ein bisschen tot war? Abgenutzt? Sie erinnerte sich an Pal, die Neue im Team, ja, die war lebendig, die bekam alles mit. Aber sie selbst – immerhin zehn Jahre älter, immerhin Mutter eines dreijährigen Sohns, immerhin Leiterin der Mordkommission in Aurich –, sie war doch schon halbtot. Ein erschreckender Gedanke.
Zum Glück war Emil bereits ganz woanders. «Wann kommt Axel wieder?», fragte er, als sie in die heimische Garagenauffahrt fuhren.
Er zeigte nicht oft, dass er ihren ehemaligen Mitbewohner vermisste, aber Wencke wusste, es war so. Immerhin hatte Emil die ersten zweieinhalb Jahre seines Lebens mit Axel Sanders zusammengelebt, sie hatten ihre freien Tage gemeinsam verbracht und sich während der Arbeitswoche manches Mal die Kinderbetreuung geteilt. Axel war zwar nie für das Windelwechseln zuständig gewesen, dafür hatte Wencke ein tüchtiges Au-pair-Mädchen gehabt, aber er hatte Emil die Nase geputzt, wenn es sein musste, und ihm Kinderbücher vorgelesen, wenn er krank war. Das war mehr, als Emils Erzeuger je getan hatte. Im Grunde genommen war Axel sein männliches Vorbild, sein Vaterersatz.
Jetzt lebten Mutter und Sohn wieder allein in dem kleinenLandhäuschen in Aurich-Walle. Sie hatten viel Platz und viel Ruhe. Manchmal zu viel von beidem.
Wencke stieg aus dem Wagen und schnallte Emil vom Kindersitz los. «Axel hat wahrscheinlich gerade wenig Zeit, mein Schatz. Weißt du, er heiratet bald.»
«Oh», sagte Emil, und Wencke hätte zu gern gewusst, was der Dreijährige gerade dachte. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, was «heiraten» überhaupt ist, aber er schien zu ahnen, dass es nichts Gutes bedeuten konnte.
«Wir haben heute die Einladung bekommen. Schau mal.» Wencke zog das Kuvert aus der Tasche; geöffnet hatte sie den schmucken Umschlag allerdings noch nicht. Auch der andere Brief aus Hannover steckte noch ungelesen in ihrer Jacke. Der Tod des Mädchens hatte einfach alles durcheinandergewirbelt. Vor Emils neugierigen Augen zupfte Wencke eine obere Ecke des edlen, hellblauen Papiers ab, steckte den Zeigefinger hinein und riss den Umschlag auf, wobei die silberne Absenderzeile bis zur Unleserlichkeit zerstört wurde.
Axel und Kerstin grinsten sie von einem Hochglanzfoto an. Sie trugen Sträflingsklamotten und hatten beide Armgelenke durch Handschellen miteinander verbunden. Darunter stand ein Text, den Wencke nun nuschelnd vorlas: «Wir haben den Fall gelöst und uns gegenseitig zu lebenslänglich verdonnert. Es wäre schön, wenn du als Zeuge mit dabei sein könntest. Tatzeit, Tatort, Tatwaffe …» Wencke musste husten. «Wie albern!», sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem Sohn. Wie hatte Kerstin ihren zukünftigen Mann nur zu so etwas überreden können? Axel Sanders im Gauner-Kostüm, das war so passend wie Mister Tagesthemen in roter Reizwäsche.
Im Haus klingelte das Telefon. Wencke drückte Emil die Papiere in die Hand und angelte in den Tiefen ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel. Es dauerte die übliche Ewigkeit, bevor sie es in den Flur schaffte, und Wencke befürchteteschon, dass der Anrufer sein Vorhaben aufgeben würde. Doch als sie sich etwas atemlos meldete, war die Leitung noch nicht tot.
«Hast wohl deinen Schlüssel mal wieder nicht so schnell gefunden …» Es war Axel. Er kannte sie einfach zu gut und wusste, wie lange sie für den Heimweg brauchte und wie chaotisch es in ihrer Handtasche aussah. Sie hasste ihn dafür. Andererseits fand sie
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