Die Blütenfrau
Ihren Brief auf das Wesentliche beschränkten und nicht – wie die anderen Frauen – gleich seitenweise aus Ihrem Leben geplaudert und dann noch einen ganzen Packen verwackelter Fotografien mitgeschickt haben.
Kurz: Ich würde gern mit Ihnen eine Brieffreundschaft aufbauen. Wenn Sie auch Interesse daran haben, wenn Sie sich keine falschen Hoffnungen machen, wenn Sie geduldig sind (und mir niemals verwackelte Fotos mitschicken) – dann würde ich mich über einen Antwortbrief freuen!
Gernot Huckler
Selbstverständlich hatte sie geantwortet – auch wenn sie seine Bedingungen nicht wirklich erfüllte, denn Hoffnungenhatte Esther sich schon gemacht. Worauf genau, konnte sie heute nicht mehr erklären, aber so falsch waren diese Wunschvorstellungen schließlich gar nicht gewesen.
Wöchentlich, manchmal täglich gingen die Briefe hin und her. Und mit der Zeit erzählte sie alles über sich: dass sie eigentlich gelernte Bauzeichnerin war, aber irgendwann die Nase voll davon gehabt hatte, allein vor dem Reißbrett zu sitzen und für ihren Mann, einen Architekten, Garagen an Einfamilienhäusern zu skizzieren. Als sich der Vater von Griet dann unerwartet von ihr trennte, nutzte sie diesen Zusammenbruch der Verhältnisse, um sich und ihr Leben zu ändern. Finanziell war es ihr dank der tapfer erkämpften Scheidungsabfindung ohne weiteres möglich, eine Fernschule für Heilpraktiker zu besuchen, und so eröffnete sie wenige Jahre später ihre eigene Praxis in dem Haus, welches ohne den Exmann ohnehin zu groß geworden war.
Von Griet hatte sie Gernot erst nach einem Dreivierteljahr geschrieben, als sie wusste, sein Interesse an einer Freundschaft war echt und beständig. Der Grund lag auf der Hand: Auch Esther wusste, dass Pädophile sich gern allein erziehende Frauen angeln, um so unbemerkt in die intime Nähe ihrer Kinder zu gelangen. Als er von Griet erfuhr, hatte Gernot daraufhin erst den Kontakt abbrechen wollen. Es hatte Esther zehn Seiten – eng beschrieben – gekostet, ihn davon abzubringen. Zu dieser Zeit war seine Entlassung noch Zukunftsmusik.
Doch die Tatsache, dass Esther Mutter war, hatte ihr Verhältnis verändert. Gernot begann, mehr über sich zu schreiben. Zuvor hatte er meistens aus dem Alltag hinter Gittern berichtet: Er war zur Arbeit in der Gärtnerei eingeteilt, besuchte regelmäßig die Bücherei und spielte Tischtennis. Aus seinem vorherigen Leben wusste Esther nur, dass er in Hameln als Einzelkind groß geworden war, nach dem Abitur inBielefeld Sozialpädagogik studiert hatte und dort auch seine erste Anstellung in einem Heim für Schwererziehbare fand. Danach klaffte ein Loch in seiner Biografie. Bis zu dem Tag, als Esther ihm von ihrer Tochter schrieb.
Irgendwann hatte sich dann zwischen ihnen auch ein neues Gefühl eingeschlichen. Als Esther ihn das erste Mal in Meppen besuchte, war sie aufgeregt gewesen wie ein Kleinkind vor Weihnachten. Gernot hatte sich als durchaus attraktiver Mann erwiesen, mit dunkelblonden Locken und dank des Sportangebotes im Knast nicht gänzlich untrainiert, zudem war er ganze zehn Jahre jünger als sie. Wäre er ein freier Mann gewesen, er hätte ihr wohl kaum je einen Blick gegönnt. Nein, hässlich war Esther Vanmeer nicht, aber sie war eben auch kein Hingucker. Die Briefe machten es möglich, dass er ihre inneren Werte kannte, bevor sie sich das erste Mal begegneten. Und dass Esther ein guter Mensch war, ein freundliches Wesen, warmherzig, weiblich und nicht ohne Humor, davon war selbst sie überzeugt.
Nur vier Monate später machte Gernot ihr einen Heiratsantrag. Und obwohl sie nie allein sein konnten – selbst in ihrer Hochzeitsnacht schlief jeder in seinem eigenen Bett –, hatte Esther sich noch nie einem Mann näher gefühlt. Trotz der Leibesvisitationen, der ständigen Präsenz der Wachmänner und der eingeschränkten Besuchszeit – es war das Romantischste, was Esther je erlebt hatte.
Irgendwann beantragte Gernot dann die vorzeitige Entlassung, ohne großen Optimismus natürlich, aber die Gutachten und seine Fortschritte in der Therapie waren durchweg positiv. Seine pädophile Neigung beruhe in erster Linie auf einem tiefen Minderwertigkeitskomplex, insbesondere gegenüber dominanten Frauen, urteilte sein betreuender Psychologe. Da sich die Beziehung zwischen ihnen allerdings anders zu gestalten schien, attestierte ein hinzugezogenerGutachter Esther eine für die Bewährungszeit unterstützende Wirkung. Das tat gut, wirklich gut. Sie wollte ihm
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