Die Blütenfrau
den Steg seiner Lesebrille zwischen die Lippen, als bemühe er sich um einen sehr gelehrten Eindruck. «Die zweite Ausrichtung auf Kinder als Sexualpartner ist eher sekundärer Natur. Die Betroffenen würden auch – oder meist sogar noch viel lieber – mit Erwachsenen eine sexuelle Beziehung eingehen. Aber sie haben schlechte Erfahrungen gemacht, sind beispielsweise von den Eltern oder anderen Erziehungspersonen geschlagen oder beschimpft, oft auch missbraucht worden. Sie wurden in einem Milieu groß, in dem die Stärkeren immer ihre Macht dazu benutzten, die Unterlegenen zu quälen. Manche haben auch schon Beziehungen mit Gleichaltrigen hinter sich, in denen sie ebenfalls massiv unterdrückt wurden und sich nicht zur Wehr setzen konnten.»
«Und so haben sie gelernt, vor Menschen Angst zu haben, die ihnen überlegen oder gleichgestellt sind?»
«So ist es. Sie können sich nur sicher fühlen, wenn sie in der Position des Stärkeren sind. Und leider wenden sie dann auch genau die Gewalt an, die ihnen selbst widerfahren ist. Auch nichtpädophile Vergewaltiger verbinden meist Liebe mit Macht und Übermacht.»
«Und zu welcher Kategorie zählt Gernot Huckler?»
«Zur zweiten.»
«Aber Sie haben ihn in Ihrem Gutachten für nicht mehr gefährlich erklärt.»
«Seine
Art
», Erb setzte das letzte Wort in hörbare Anführungsstriche, «ist besser therapierbar als die erste. Im Prinzip muss man ihn behandeln wie einen Angstpatienten. Wenn er seine Furcht vor erwachsenen Frauen überwindet, kann er vielleicht ein ganz normales Leben führen. Vorausgesetzt, er sucht sich keine dominante Partnerin.»
«Ich habe seine Ehefrau kennengelernt. Sie scheint mir das glatte Gegenteil zu sein.»
«O ja.» Er nickte salbungsvoll. «Ich mag Esther Vanmeer sehr. Sie ist eine wunderbare Person. An ihrer Seite hat Gernot Huckler beste Chancen für die Zukunft. Aus diesem Grund bin ich ja auch hierhergekommen.»
Erb stand auf und ging zum Fenster. Ein bisschen wirkte er wie der engagierte Anwalt einer U S-Serie , der nun in seinem hellgrauen Zweireiher mit blauer Krawatte ein brillantes Plädoyer zum Besten geben würde. «Es wäre schrecklich, wenn der furchtbare Mord an diesem Mädchen nun ausgerechnet einem Mann in die Schuhe geschoben wird, der wie kein anderer darum kämpft, sich nie wieder etwas Derartiges zuschulden kommen zu lassen. Ich würde mir nie verzeihen, wenn eine so mutige Familie wie die Vanmeers durch eine vorschnelle Verurteilung und die Hysterie der Bevölkerung auseinandergerissen würde, ohne dass ich etwas dagegen unternommen hätte.»
Wencke musste sich beherrschen, um nicht Beifall zu klatschen. Dieser Mann hatte ganz klar Angst, durch ein Fehlurteil seinen guten Ruf zu verlieren. Eine tolle Show lieferte dieser Dr. Erb hier ab. Blieb nur zu hoffen, dass auch mehr dahintersteckte als ein Haufen aufgeblähter Worte.
«Gut, wenn es aber Huckler nicht war, wer dann? Wenn Sie schon für das FBI gearbeitet haben, dann sind Sie ja so etwas wie ein Profiler, richtig?»
«Verschonen Sie mich mit diesem Ausdruck, den findet man eigentlich nur in den Drehbüchern phantasiebegabter Serienautoren. Wir sprechen hier von der operativen Fallanalyse.»
«Mir ist egal, wie Sie es nennen. Ich wüsste nur gern, welche Schlüsse Sie aus den bisherigen Informationen ziehen. Wer hat Allegra Sendhorst ermordet?»
«Heißt das, Sie binden mich in den Fall ein?»
Wencke war skeptisch, dennoch konnte man nicht ohne weiteres auf ein derartiges Hilfsangebot verzichten. Schließlich gab es hier in Ostfriesland weit und breit keinen Experten auf dem Gebiet der Kriminalpsychologie, und Erb kannte noch dazu das Verhaltensmuster von Pädophilen, insbesondere von Gernot Huckler. Ihre unergründliche Abneigung gegen diesen Mann war eine Sache. Der Umstand, dass in diesem Fall Eile geboten war, eine andere. Zudem war Erb gekommen, um den Verdacht gegen Gernot Huckler zu entkräften, und das war es, was Wencke von Stunde zu Stunde inniger hoffte: dass endlich irgendein Beweis vom Himmel fiel, der die Unschuld dieses Mannes beweisen würde. Zugegeben, sie hatte dafür ganz egoistische Motive, denn nur so wäre ihr Verhalten von vorgestern zu entschuldigen, als sie den besorgten Peter Sendhorst abgewimmelt hatte.
«Sie zögern noch immer, Frau Kommissarin. Darf ich fragen, warum?»
«In den USA mag es inzwischen Normalität sein, dass ein externer Fallanalytiker eingeschaltet wird. Aber wir hier in der norddeutschen Provinz gehen
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