Die Blütenfrau
trägt vermutlich halblange Jeans und ein grünes T-Shirt . Sie war gestern im Watt unterwegs und ist nicht mehr nach Hause gekommen.» Der Mann nahm das Foto wieder an sich und legte es in den Inselplan.
«Ist sie vielleicht ertrunken?»
«Das haben wir auch erst gedacht. Der Strand hat ja seine Tücken, Treibsand und Strömungen und so.» Er war verschwitzt und atemlos. Ob er Marinas Vater war? «Aber wir haben heute Morgen hier in der Nähe ihren Eimer gefunden. Einige Krebse waren noch drin. Sie muss also bereits wieder auf dem Rückweg gewesen sein.»
«Vielleicht ist sie weggelaufen?»
Er schnaubte kurz. «Auf einer Insel läuft keiner weg.»
Gernot fühlte sich hilflos. Hanno war bereits außer Rufweite. Er war geflüchtet. Es gab keine andere Erklärung für sein Verhalten. Hanno musste geahnt haben, dass diese Menschen einen Suchtrupp bildeten. Und diese Ahnung konnte er nur gehabt haben, weil er wusste, wonach sie suchten – verzweifelt suchten.
«Tut mir leid. Ich werde Augen und Ohren offen halten. Viel Glück jedenfalls.»
«Wenn Sie etwas bemerken, irgendetwas, egal wie nebensächlich es erscheint, melden Sie sich dann bitte bei derPolizei oder in der Hermann-Lietz-Schule? Ich bin dort Direktor, und Marina ist eine meiner Schülerinnen. Bitte, helfen Sie uns!»
«Ja, natürlich, wie gesagt …»
Der Mann ging zur Gruppe zurück.
Gernot schaute sich um. Von Hanno war lange schon nichts mehr zu sehen, er war hinter einem der sandigen Hügel verschwunden. Gernot wäre ihm gern hinterhergerannt, doch seine Beine schienen plötzlich aus Brei zu sein. Hanno …, dachte er. Das darf nicht wahr sein!
Endlos wirkte der Weg vor ihm, als blicke er verkehrt herum durch ein Fernglas. Und dort, ganz am Ende, saß Hanno auf der Lehne einer Bank und rauchte in aller Seelenruhe eine Zigarette.
Ich sollte zur Polizei gehen, dachte Gernot. Das hätte ich schon gestern Morgen tun sollen, gleich, nachdem ich von dem vermissten Mädchen gehört habe. Ich wusste doch, dass er dahintersteckt. Er hat mir von Anfang an nichts vorspielen können. Schon damals nicht, als ich ihn das erste Mal beobachtet habe. Mit dem Mädchen, das mir viel wichtiger ist als alle anderen Mädchen zuvor. Ich habe sie schützen wollen, ich will sie noch immer schützen. Das ist meine Aufgabe. Warum also gehe ich nicht augenblicklich zur Polizei und erzähle, was ich weiß?
Gernot kannte die Antwort. Er tat es nicht, weil er sich an der Seite von Hanno Thedinga das erste Mal in seinem Leben als guter Mensch fühlte. Das machte ihn stark. Und gleichzeitig war es widerlich, weil er ahnte, was in diesem Mann vorgehen musste. Und weil er die Hoffnung hatte, die vielleicht irrsinnige Hoffnung hatte, Hanno dazu zu bringen, sich selbst zu stellen. Denn eines hatte er in der JVA verstanden. In der Gruppentherapie, wo jeder den anderen Sexualstraftätern erzählen musste, was passiert war und wiees sich angefühlt hatte, da hatte Gernot verstanden: Der einzige Weg aus der verbotenen Sehnsucht war die Erkenntnis, dass es ein fürchterliches Unrecht war. Und diese Erkenntnis konnte man nur in sich selbst finden. Er musste Hanno dazu bringen, das zu begreifen. Und wenn er es nicht schaffte, dann würde ihn sein nächster Weg zur Polizei führen, so viel stand fest.
Als Gernot bereits den Qualm von Hannos Zigarette in der Nase hatte, kamen ihm die letzten Schritte bis zur Bank noch immer wie eine Weltreise vor. Er wusste, warum es ihm so schwerfiel. Es war die Angst. Er hatte Angst, den nächsten Satz auszusprechen. Wie würde Hanno reagieren?
«Sie müssen sich stellen.»
«Pff.» Hanno blies dicken Rauch aus und bot ihm eine Zigarette an. «Entspannen Sie sich.»
«Wenn Sie es nicht tun, dann werde ich es machen.»
«Wovon sprechen Sie eigentlich?»
«Gleich zwei Kinder in zwei Tagen …! Die Leute da eben suchten ein Mädchen. Zwölf Jahre. Marina.»
«Seit wann genau sind
Sie
denn eigentlich auf Spiekeroog?»
Nein, auf ein solches Spiel würde er sich nicht einlassen! Irgendwie musste er Hanno doch zu packen kriegen. «Was ist mit dem Mädchen? Was hast du mit ihr gemacht? Lebt sie noch?»
«Sind wir auf einmal per Du?»
«Ob Marina noch lebt, habe ich dich gefragt!»
«Du weißt genau, wenn ich damit etwas zu tun hätte, dann wäre deine letzte Frage ziemlich überflüssig.»
«Ich werde der Polizei sagen, was ich über dich weiß.»
«Tu dir keinen Zwang an.»
«Mein Gott, gestern Abend, da … Ich hätte es vielleicht
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