Die Blütenfrau
verhindern können, wenn ich …» Gernot schloss die Augen.Ich habe geschlafen und meinen Einsatz verpennt. Im Knast habe ich so oft die Visionen gehabt, dass ich ein Mädchen treffe, ein hübsches Mädchen mit blonden oder roten Haaren, und dass ich dieses Mädchen rette. Vor einem Monster wie Hanno. In meinen Träumen handelte ich mutig und entschlossen und habe so das Schlimmste verhindert. Und damit war alles, was ich jemals getan habe, fortgewischt, wieder gut geworden. Mein Bild stand wieder in den Zeitungen, aber aus der Bestie war ein Held geworden, ein verwandelter Ritter, an Kraft und Kühnheit nicht zu übertreffen. Ja, solche Gedanken kommen einem im Knast, denn man hat genug Zeit und Gelegenheit, darüber nachzusinnen. Doch in der Realität habe ich kläglich versagt und mein Gesicht in das weiche Daunenkissen der Pension Michaelis gedrückt, statt der gestrigen Nacht die Stirn zu bieten.
«Wo ist sie?» Gernots Stimme zitterte.
«Ach, daher weht der Wind. Du bist spitz wie Nachbars Lumpi, stimmt’s? Du denkst, sie ist genau dein Typ. Und jetzt hast du Schiss, dass ich eine große süße Torte hatte und du nicht mal einen Krümel davon abbekommen hast …»
«Wie kannst du nur!»
«Nun mach dir mal nicht in die Hose, Kollege. Ich hab dich verarscht. Natürlich lebt die Kleine noch.»
Konnte das wahr sein? Gernot hielt die Luft an.
«Soll ich dich zu ihr bringen?»
«Ja, natürlich, sofort!»
Hanno rutschte von der Lehne, warf die Zigarette ins Dünengras und grinste breit. Wie kann ein solcher Sadist nur mit einem derartigen Lächeln ausgestattet sein?, dachte Gernot. Dieser Mann hatte zwei Gesichter, lebte zwei Leben. Da waren der smarte Kellner und der abgründige Peiniger. Aber Gernot schöpfte Hoffnung. Auch wenn er hier und jetzt gerade einen schauerlichen Helden abgab: Wenn dieKleine noch am Leben war, konnte er sie vielleicht retten. Und wenn Hanno von ihm dachte, es ging ihm hier um etwas anderes, nun, das sollte ihm egal sein. Hauptsache, er fand das Kind, diese Marina.
Er folgte Hanno zu einem versteckten Weg, der von den Dünen in ein kleines Wäldchen führte.
«Ich hatte sowieso vor, ihr in meiner Mittagspause einen kleinen Besuch abzustatten, aber du wolltest ja unbedingt spazieren gehen.»
«Was hast du mit ihr gemacht? Warum ist sie noch am Leben?»
«Du tust ja gerade so, als wäre es ein Verbrechen, sie nicht gleich zu töten.» Hanno lachte laut.
Der Weg in die Dünen wurde enger. Scharfe Gräser schnitten in die Beine, der Ast einer Inselrose ragte über den Trampelpfad. Sie passierten ein Schild, auf dem der Bereich als Wasserschutzgebiet ausgewiesen wurde. Betreten der Dünen verboten. Aber was sollte ihn das jetzt kümmern, in diesem Moment?, dachte Gernot und stolperte Hanno hinterher.
«Ich habe mir dieses Mal ein bisschen mehr Zeit gelassen, weißt du? Bei dem Mädchen in Norden ging es viel zu schnell. Zack, und schon war sie tot. Da hatte ich nicht richtig Spaß dran. Deswegen mache ich es dieses Mal ganz langsam.»
«Ich glaube dir kein Wort. Es gibt hier auf der Insel keinen Platz, um ein verängstigtes Mädchen unbemerkt gefangen zu halten.»
«Da hast du natürlich recht, auf der Insel nicht. Aber darunter schon!» Hanno blieb plötzlich stehen und zeigte auf eine Betonplatte am Boden. Darauf befand sich ein runder Stein, ein breites Metallrohr und eine gewaltige Schraube, mit dem sich das Ganze öffnen ließ.
«Sie ist in diesem Brunnen?»
Hanno schaffte es, seine Mundwinkel noch weiter auseinanderzuziehen. «Willst du sie nicht besuchen? Ich könnte euch beide da unten ein bisschen alleine lassen. Viel Platz ist nicht, aber für deine Zwecke wird es reichen …»
«Halt endlich die Klappe! Du weißt, dass es mir um etwas anderes geht.»
Hanno klimperte mit seinen Augenlidern. «Der süße Unschuldsengel Gernot Huckler …»
Er drehte am Schraubverschluss mit einer gelenkigen Bewegung, die keinen Zweifel ließ, dass er schon öfter damit hantiert hatte. Der runde Steindeckel gab ein Ächzen von sich, als Hanno ihn zur Seite schob. Darunter klaffte ein dunkles Loch, so dunkel, dass man die rostroten Sprossen der nach unten führenden Leiter nur knapp zwei Meter weit erkennen konnte.
Gernot trat näher heran. «Marina?», rief er hinunter. Mit seinem Schuh schob er versehentlich ein kleines Steinchen über den Brunnenrand. Erst einige Augenblicke später vernahm er ein Platschen auf nassem Grund. Der Brunnen war tief.
«Marina? Bist du
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