Die Blütenfrau
da unten?»
Tatsächlich hörte Gernot ein Wimmern. Ein dünnes, singendes Wimmern. Es klang nicht nach einem menschlichen Wesen. Aber wie klang man schon nach endlosen Stunden in einem solchen Verlies?
«So, dann mal runter mit dir. Ich mach das nicht, ich habe nämlich Schiss im Dunkeln …» Hanno fand sich amüsant. Die Geste, mit der er Gernot den Weg nach unten wies, mochte identisch sein mit der Bewegung, die er machte, wenn er Restaurantgäste an ihren Tisch führte. Galant und selbstsicher. Er war ein Teufel.
«Und dann? Dann machst du den Deckel drauf und haust ab!»
«Ich mache euch lediglich miteinander bekannt, schließe das Séparée ab und gönne mir danach selbst noch einen leckeren Imbiss, bevor ich wieder meine Kellnerschürze umlege.»
«Hanno, denk doch mal nach. Noch kannst du das Schlimmste verhindern. Noch bist du kein Doppelmörder. Ist dir denn alles egal?»
«Ich hatte eine schwere Kindheit», antwortete er lapidar.
Es war hoffnungslos. Hanno Thedinga war glatt wie ein Aal, weder Appelle an seine Vernunft noch Gewissensfragen würden ihn jetzt zu irgendetwas bewegen. Gernot hätte es sich denken können. Er kannte Hanno besser, als ihm lieb war. Sein Versuch, ihn zur Vernunft zu bringen, würde vergeblich bleiben. Am besten machte er sofort kehrt, die Polizeistation konnte nicht allzu weit von hier entfernt sein. Er drehte sich um.
Im selben Moment spürte er eine harte Hand an seiner Schulter. Hanno riss ihn herum und schob ihn Richtung Brunnenloch. Die Erkenntnis, dass er in einer Falle saß, traf Gernot wie ein Schlag. Wenn es tatsächlich so war, wenn Hanno in den letzten zwei Tagen zum Mörder und Kindesentführer geworden war, dann war hier Endstation.
Gernot holte Luft. «Hilfe!», rief er. Er hatte noch nie um Hilfe geschrien, und es klang so künstlich, so übertrieben in seinen eigenen Ohren. Doch er musste es tun. Hanno war ihm körperlich überlegen, außerdem hatte er nichts, aber auch gar nichts zu verlieren.
«Du hast es endlich kapiert, du Idiot. Hat ja ganz schön lange gedauert.» Hanno drängte ihn weiter, seine Bewegungen waren noch nicht einmal schnell, eher träge wie eine Gewitterfront, die sich bedrohlich am Himmel aufbaut. Gernot blieb genug Zeit, die Katastrophe herannahen zu sehen, aber es war zu spät, um davor zu fliehen. Hannos kräftige Händeumfassten von hinten Gernots Armgelenke und drückten zu.
«Steig runter, du Arsch. Neben die Kleine. Richtig schön eng wird es da für euch.» Er stieß ihn auf das Loch zu. Es hatte einen Durchmesser von einem Meter, zu breit, um sich erfolgreich dagegen zu sperren.
«Hilfe!»
«Wenn du freiwillig runterkrabbelst, ersparst du dir einige blaue Flecken und brichst dir vielleicht nicht das Genick.»
Gernot stotterte. «Äh, ich habe mit Esther telefoniert. Sie weiß, dass ich mich mit dir treffe. Wenn ich mich in einer Stunde nicht bei ihr gemeldet habe, wird sie … äh, die Polizei informieren.» Er wünschte verzweifelt, der letzte Satz wäre nicht bloß diese viel zu offenkundige Lüge, die er war. Warum hatte er sich Esther nicht anvertraut? Sie hätte ihn verstanden und unterstützt, sie hätte ihm wahrscheinlich den guten Ratschlag gegeben, sich nicht allein mit Hanno Thedinga zu treffen. Sie hätte ihn vor diesem Abgrund bewahrt.
«Erzähl keinen Scheiß! Vorhin hast du gesagt, sie weiß nichts davon. Und so wie ich eure verkorkste Ehe einschätze …» Er lachte. «Du hast doch eigentlich die niedliche, kleine Griet geheiratet, oder nicht?»
«Das ist nicht wahr!», schrie Gernot. Ihm war speiübel.
«Süße, du bekommst Besuch», rief Hanno in das Loch, und seine Stimme rieb sich an den runden Wänden, die in die Unterwelt der Insel führten. Plötzlich griff er mit einer Hand um Gernots Hüfte und versuchte, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen. Gernots Fuß knickte schmerzhaft nach innen. Er jaulte auf. Tief unten aus dem Loch erhielt er eine Antwort. Oder war es sein eigenes Echo?
«Stell dich nicht so an. Wer kleine Mädchen befingert, der darf nicht heulen, wenn …»
Hannos Faust traf Gernot in die Nieren. Er stolperte nach vorn und rutschte mit einem Bein über den Brunnenrand, wobei seine Wade über den rauen Beton schrappte. Instinktiv hielt er sich an seinem Gegner fest, als wolle er ihn mit sich reißen. Seine Fingernägel bohrten sich in Hannos Arm wie Widerhaken. Und er spürte, wie die Haut nachgab, einriss und zu bluten begann. Doch ein gezielter Handkantenschlag
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