Die Blütenfrau
ließ ihn erschlaffen. Der Schmerz raubte ihm den Verstand. Waren seine Arme gebrochen? Sie schmerzten heftig. Verdammt, er hing noch immer über diesem Loch, doch schon jetzt tat ihm alles so weh, als sei er von einem Bulldozer überrollt worden. Gernot wusste, er hatte keine Chance. Ihm fehlte die Kraft, ihm fehlte die Kondition, ihm fehlte vor allem der Wahnsinn, den Hanno an den Tag legte.
«Hilfe!» Gernot versuchte es ein letztes Mal. Aber es war klar, niemand würde ihn hören, niemand würde kommen, um ihn zu retten. Es war aus.
Dann knickten seine Knie ein, und er sank nach unten. Sein Bein blutete, er fand mit den Zehen eine Sprosse und rutschte in kleinen Rucken ins Loch. Hanno trat ihm von hinten in den Rücken, sodass er ein ganzes Stück nach unten fiel, sich verhakte und unglücklich verknotet, schon halb im Loch verschwunden, hängen blieb. Seine Jacke war ihm von der Hüfte gerutscht, sie lag nun über dem Brunnenrand. Hanno schleuderte sie im hohen Bogen von sich. Dann spürte Gernot eine Schuhsohle auf seinem Scheitel, erbarmungslos drückte sie ihn nach unten. Die Schultern knackten, etwas schien gerissen zu sein, Sehnen oder Muskeln. Jedenfalls funktionierten seine Arme nicht mehr, sie erschlafften von einer Sekunde auf die andere. Nur seine schmerzenden Beine hielten ihn noch, er musste sich konzentrieren, er musste sich gegen die Wand stemmen, um nicht abzurutschen.Irgendwann hatte er sich sortiert und neuen Halt gewonnen, und erst da registrierte er, wie stockdunkel es um ihn herum geworden war. Hanno hatte den Deckel zugeschoben.
Stück für Stück rutschte Gernot tiefer. Sein Atem bekam einen neuen Klang. Die Luft war dick und warm, sie roch salzig und sandig wie das Wattenmeer.
Er hatte Angst. Vor der Dunkelheit, vor der Enge, vor der Ausweglosigkeit. Doch am meisten fürchtete er sich vor dem, was er vorfinden würde, sobald er am Grunde des Bodens angekommen war.
22.
Mimulus (Gefleckte Gauklerblume)
Botanischer Name: MIMULUS GUTTATUS
Blüte gegen Ängste, Schüchternheit und innere Anspannung
Lateinprüfung. Es war der zweite Versuch. Sie sollten irgendeine Rede von irgendeinem Feldherrn übersetzen. Ihr Lehrer war in Ordnung, fand Griet. Er versuchte immer, das Interesse der Schüler zu wecken. Aber wer wollte wirklich wissen, was so ein militantes Arschloch vor zweitausend Jahren zum Thema Krieg und Frieden gesagt hat?
Griet bereitete der Text keine Schwierigkeiten. Sie war gut in Latein. Sie war auch gut in Mathe. In Deutsch. In Englisch. In den Naturwissenschaften. Sie war in allem gut, außer vielleicht in Musik und Kunst, da stand sie zwischen zwei und drei. Ihren Mitschülern erschien es unheimlich, dass sie nicht lernen musste und trotzdem alles verstand. Griet fand es normal. Sie kannte es nicht anders. Früher hätte sie auf diese bescheuerte Begabung lieber verzichtet, die sie vom Rest der Klasse abgrenzte. Heute war es ihr egal.
«Ich weiß, euch ist nicht danach, einen Test zu schreiben. Es ist schrecklich, was mit Allegra passiert ist. Aber wir stehen kurz vor den Zeugniskonferenzen, ich brauche diesen Leistungsnachweis. Sollte die Arbeit von überdurchschnittlich vielen in den Sand gesetzt werden, kann ich immer noch beantragen, dass sie nicht in die Wertung einfließt.» Herr Nettahn grinste hilflos und sammelte die Arbeitszettel ein. Zu Beginn der Stunde hatte er jeden eindringlich ermahnt: «Wenn ihr irgendetwas wisst, wenn Alli irgendwas Ungewöhnlichesgesagt oder getan hat, dann müsst ihr das der Polizei sagen, okay?»
Griet fiel dazu nichts ein. Sie hatte mit Allegra kaum etwas zu tun gehabt. Sie hatten völlig unterschiedliche Interessen. Was kümmerten Griet Katzen, Musicals, Fernsehserien oder Jungs? Den Kopf zerbrach sie sich lieber über andere Dinge. Und seitdem sie sich durch ihre schwarze Kleidung auch nach außen hin ganz bewusst abgrenzte, ließen die anderen sie in Ruhe.
Griet packte ihren Kram in die Tasche und verließ den Raum, in dem sie die letzten sechzig Minuten über lateinischen Vokabeln gebrütet hatte. Sie ging langsam, denn sie hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Zwar war es inzwischen schon fast vier Uhr, der Tag also so gut wie gelaufen, dennoch hatte Griet keinen Bock, ihrer Mutter zu begegnen. Immer wieder dieses Gelaber zu Hause. Und diese Scheinheiligkeit. Das kotzte sie an.
Einige Schüler der Unterstufe schlängelten sich rechts und links an ihr vorbei und sagten kurz «Sorry», wenn sie ihr zu nahe kamen. Die
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