Die Blütenfrau
Kleinen hatten Respekt vor ihr. Denn obwohl das Gymnasium mit über eintausenddreihundert Schülern relativ groß war, wusste jeder, wer sie war. Griet Vanmeer – die Hochbegabte. Die Grufti-Tante. Die, bei der der Kinderschänder lebt.
Das Gewimmel auf dem Schulhof glich einem Durcheinander von Insekten, die im Unterholz ihren verschiedenen Aufgaben im Ökosystem nachgingen. Die dicken, schwerfälligen Schüler (die Käfer) schafften sich Platz in der Enge der Fahrradständer. Die agilen (die Ameisen) kümmerten sich um ihre Verabredungen, Liebesbeziehungen, Wochenendpartys. Die schüchternen, unscheinbaren (die Asseln) passten auf, dass niemand ihnen zu nahe kam und sie möglichst immer im Schatten standen. Griet überlegte, was fürein Insekt Allegra Sendhorst gewesen war. Eine Köcherfliege vielleicht? So eine filigrane, empfindliche Mücke, nicht so schön wie ein Schmetterling, nicht so spektakulär wie eine Wespe, aber eben doch flugtauglich.
Und was war sie selber? Eine Libelle? Gefährlich aussehend, aber weder giftig noch im Besitz eines Stachels. Oder eine Gottesanbeterin – nur ohne Gott?
Endlich bei ihrem Fahrrad angekommen, waren die meisten Schüler bereits verschwunden und unterwegs in Richtung Einfamilienhaus, in deren Zimmer ihre Bravo-Poster von gecasteten Bands hingen.
Gestern hatte ihre Mutter mal wieder diese Anwandlung gehabt und gemeint, sich um ihre Tochter kümmern zu müssen. Kunsthalle, gemeinsames Essen, das volle Programm. Sie hatten über alles Mögliche gelabert, was nicht wehtat. Denn darin war Griets Mutter echt die Königin, im Viel-Reden-und-nichts-Sagen. «Was wollen wir eigentlich in den Sommerferien unternehmen? … Sag mal, was hältst du davon, wenn wir im Garten ein paar neue Blumen pflanzen, du kennst dich doch so gut aus in Biologie. … Ich finde ja, deine natürliche Haarfarbe steht dir besser, aber wenn du meinst, dich auf diese Weise ausdrücken zu müssen …» Zum Kotzen.
Griet klemmte die Tasche auf den Gepäckträger und fuhr los. Die Fußgängerampel war schon rot, aber sie trat noch schnell in die Pedale und überquerte die Norddeicher Straße Richtung Ludgerikirche. Dies war der schönste Ort in Norden, fand Griet. Abgeschieden, geschützt, zeitlos, obwohl man sich mitten in der Stadt befand. Riesige Bäume standen neben dem Fahrradweg, und man musste aufpassen, nicht auf einem der Scheinwerfer im Boden auszurutschen oder einen der Penner zu überrollen, die sich hier häufig zum Ausnüchtern hinlegten. Aber wirklich anziehend fand Grietdie uralten, verwitterten Grabsteine auf dem Hügel, der sich hinter der roten Mauer erhob. Manchmal fuhr sie dorthin, wenn sie allein sein wollte, wenn sie die Schnauze voll hatte von allem, dann lehnte sie sich an eines dieser grauen, bemoosten Denkmale und erinnerte sich an die Versprechungen, die ihr Samael gemacht hatte. Samael, der Mann, den sie liebte und auf den sie jetzt wartete. Natürlich war das nicht sein richtiger Name – Samael war ein Dämon aus dem jüdischen Talmud, der den Menschen beibringt, wie man sich schmückt –, aber Griet wäre nie auf den Gedanken gekommen, ihn bei seinem weltlichen Namen zu nennen. Denn wenn sie ihn traf, hatte sie das Gefühl, ein kleines Stück in einen anderen Kosmos einzutauchen. Er hatte ihr versprochen, sie ganz mitzunehmen, wenn es so weit war. In diese andere Welt, nach der sie sich so sehnte. Eine Welt, die besser war als diese spießige Kleinstadt, in der nur Menschen lebten, die einen Scheißdreck verstanden.
«Halt! Griet, bleib stehen!»
Sie zog die Handbremse und schaute sich um. Wer hatte da nach ihr gerufen? Fast wäre sie gefallen, weil sich das Vorderrad in einer Pflasterfuge verhakte. Doch dann fanden ihre beiden Füße den Boden, und sie stand sicher, das Fahrrad zwischen den Beinen und die Hände fest am Lenker.
«Ja?» War da eben eine Gestalt hinter dem dicken Baumstamm verschwunden? «Was ist denn? Wo steckst du?»
Es ist Samael, dachte sie. Hatte er bereits auf sie gewartet? Oder hatte sie sich getäuscht, und es war nicht seine Stimme gewesen? Aber wer kannte sonst ihren Namen? Und wer würde hier – ausgerechnet hier – auf sie warten?
«Nun zeig dich endlich, oder ich fahre weiter …» Sie lachte und versuchte unbeschwert und fröhlich zu klingen, so als ob sie sich auf sein Versteckspiel einließ. «Ich habe dich sowieso schon gesehen. Da hinter dem Baum.» Abernichts rührte sich. «Wenn du dich nicht traust, dann werde
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